Startups auf Kundensuche Staats-Milliarden zu vergeben

Vater Investor: In der Corona-Krise gibt der Staat Milliarden frei, etwa für die Digitalisierung von Schulen. Davon können auch Start-ups profitieren. Foto: dpa Quelle: dpa

Zu komplex, zu mühsam, zu bürokratisch: Die Mehrheit der Gründer scheut die Zusammenarbeit mit Behörden. Dabei lockt ein Milliardenmarkt mit treuen Kunden. In der Krise will der Staat den Start-ups neue Brücken bauen.

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Messen, Tagungen – und viele, viele Treffen mit Bürgermeistern, Landräten sowie Kämmerern: Bevor die Corona-Pandemie Deutschland erreicht hat, war Faruk Tuncer ständig auf Achse. Die Mission des Gründers: Er will Kommunen und Landkreise davon überzeugen, bislang wenig beachtete Zahlen und Informationen mit der Software seines Start-ups nutzbar zu machen. „Datenanalysen sind ein riesiges Feld, das in Verwaltungen bisher vollkommen brachliegt“, sagt der Geschäftsführer von Polyteia. „Dabei ließen sich viele Entscheidungsprozesse drastisch verbessern.“

Ende 2018 hat das Berliner Start-up das erste Modul seiner „intelligenten Steuerungsplattform“ veröffentlicht. Es dreht sich um Kindertagesstätten: Aus verschiedenen Einzelprogrammen der Verwaltung führt die Software relevante Kennzahlen zusammen – etwa zum Personal, zum gegenwärtigen und prognostizierten Bedarf an Betreuungsplätzen sowie der Budgetplanung. Ähnliche Module gibt es inzwischen auch für Schulen, die Personalplanung der Verwaltung sowie zu demografischen Entwicklungen. Rund ein Dutzend Kommunen hat Polyteia bisher als Kunden gewonnen. In der Krise steigt nun die Nachfrage.

Der Grund: Die Kommunen müssen aktuell ständig neue Szenarien und Pläne entwickeln, um im Einklang mit den jeweiligen Landesvorgaben ihre Dienstleistungen weiter anbieten zu können. Ohne eine übergeordnete Steuerungssoftware wie die von Polyteia ist das eine Mammutaufgabe. Besonders die Personalplanung ist komplex wie nie zuvor. Einerseits verändert die Krise den Bedarf in verschiedenen Bereichen. Andererseits gilt es, Risikogruppen in der Verwaltung zu ermitteln und besonders zu schützen. Auch die Tatsache, dass Infektionszahlen der Gesundheitsämter über die teils analogen Meldekette oft erst verzögert verfügbar seien, habe die Entscheidungsträger wachgerüttelt. „Die Digitalisierung nimmt im Moment stark an Fahrt auf“, sagt Tuncer.

Neuer Blick auf Vater Staat

Unternehmen wie Polyteia, die Geschäftsbeziehungen zu Behörden („Business to Government“, kurz: B2G) unterhalten, sind bislang Exoten. Gerade einmal vier Prozent der Gesamtumsätze deutscher Start-ups sind auf diesen Bereich zurückzuführen, ergaben Befragungen für den jüngsten Startup-Monitor. Das Geschäft sei zu mühsam, zu komplex, zu langsam, so die gängige Meinung. Die meisten Gründer, deren Produkte sich nicht direkt an Verbraucher richten, konzentrieren sich deswegen auf Firmenkunden – und geraten nun in existenzielle Not, weil neue Aufträge ausbleiben.

Anders ist das im B2G-Bereich, beobachtet Nils Hoffmann. „In der Krise erweist sich der Staat als treuer Auftraggeber“, sagt der Leiter des Programms Govstart Germany, mit dem der Start-up-Investor Public junge Unternehmen und Behörden zusammenbringen will. Seit Herbst nehmen in Deutschland fünf Start-ups – darunter Polyteia – an dem Programm teil, europaweit sind es 16. „Alle der Start-ups sind weiterhin mit ihren Kunden in Kontakt, in vielen Fällen wächst die Nachfrage aktuell“, sagt Hoffmann. Das beschere den Unternehmen gerade auch rege Aufmerksamkeit von Wagniskapitalgebern, die aktuell nach stabilen Geschäftsmodellen sehnen.

Staatsaufträge statt Staatshilfe

Jetzt entdeckt auch der Staat selbst das Potenzial. In dieser Woche öffnete das Bundeswirtschaftsministerium eine Umfrage, um von Start-ups und innovativen Kleinunternehmen zu erfahren: Warum schrecken kleine Firmen vor einer Ausschreibung zurück? Welche Regeln, Bedingungen, Formulierungen könnten helfen? Die öffentliche Hand gibt jedes Jahr mehr als 350 Milliarden Euro aus, um Produkte und Dienstleistungen einzukaufen.

Behörden und Staatsbetriebe böten „ein riesiges Potenzial für Start-ups, das aber noch zu selten genutzt wird“, sagt Thomas Jarzombek, Beauftragter für digitale Wirtschaft und Start-ups des Bundeswirtschaftsministeriums. „Um diese Win-Win-Situation auszubauen, wollen wir wissen, wie wir den Zugang zur öffentlichen Beschaffung erleichtern können.“ Über Staatsaufträge können so auch wichtige Umsätze an junge Unternehmen fließen, die in der Coronakrise ansonsten bald auf Staatshilfen angewiesen wären.

Der Bedarf an innovativen Produkten ist groß, nicht nur in Krisenzeiten: Die Verwaltung steht unter Druck, endlich digitale Behördengänge zu ermöglichen. Eigentlich sollte das ein Heimspiel für innovative Start-ups sein. „Gründer unterschätzen regelmäßig das Potenzial im öffentlichen Sektor“, beobachtet Hoffmann. „Gleichzeitig überschätzen sie die Hürden, auch wenn es die natürlich gibt.“

Konservative Einkäufer

Doch noch ist die Annahme weit verbreitet, dass Start-ups durch das Vergaberecht Steine in den Weg gelegt werden. Das Bundeswirtschaftsministerium wehrte sich lange gegen diese Vorwürfe: „Die Möglichkeiten öffentlicher Stellen, Start-ups in ihre Vergabepraxis einzubeziehen und ihnen öffentliche Aufträge zu erteilen, sind aus Sicht der Bundesregierung gut“, antworteten die Beamten vor gut einem Jahr auf eine Kleine Anfrage von mehreren Grünen-Abgeordneten. Das Ministerium verwies auf Erleichterungen für kleine und mittlere Unternehmen, die eine Gesetzesnovelle 2016 gebracht hat. Ein neues Instrument ist die „Innovationspartnerschaft“, durch die Unternehmen etwa mit der Neu-Entwicklung einer IT-Lösung beauftragt werden können.

Das Problem: „Viele Beschaffungsstellen nutzen die Möglichkeiten deutlich zu wenig“, sagt Ferdinand Schuster, Leiter des von der Beratung KPMG geförderten Instituts für den öffentlichen Sektor. „Aus Furcht vor Nachprüfungsverfahren vertrauen viele lieber auf Altbewährtes.“ Tatsächlich werden in Ausschreibungen teils Dinge verlangt, die aus Sicht eines jungen Unternehmens absurd erscheinen: etwa ein Mindestumsatz oder eine lange Liste von Referenzen. Nach Einschätzung Schuster sollten Behörden ihre Beschaffungsstellen aufstocken, besser schulen und vor allem frühzeitig einbinden. „Die Fachleute haben oft ein bestimmtes Produkt im Kopf und briefen den Einkäufer entsprechend“, sagt Schuster. „Die Folge: Es wird nicht das Problem ausgeschrieben, sondern die Lösung.“

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