Telemedizin Rezepte für Post-Corona gesucht

Quelle: Getty Images

Die Pandemie hat Online-Behandlungen einen kräftigen Schub gegeben. Jetzt sortiert sich der Markt neu: Große Portale wollen zur universellen Anlaufstelle aufsteigen – während jüngere Konkurrenten sich in lukrativen Nischen als digitale Fachärzte positionieren.

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Webcam statt Wartezimmer, Selbstauskunft statt Stethoskop: Seiner Vision, Arztbesuche mehr und mehr ins Internet zu verlagern, ist Zava-Chef David Meinertz im Corona-Jahr einen großen Schritt nähergekommen. 40 Prozent mehr Behandlungen als noch 2019 verzeichnete der Online-Arzt. Insgesamt hat das 2010 gegründete Unternehmen nun knapp fünf Millionen Behandlungen von Patienten in Deutschland, Großbritannien, Irland und Frankreich abgeschlossen. „Covid-19 hat die Telemedizin-Welt um fünf Jahre nach vorne gebracht“, sagt Meinertz. Und in noch einmal fünf Jahren, so seine Prognose, werden die Hälfte aller Interaktionen zwischen Arzt und Patient bereits online stattfinden.

Der Zulauf stärkt das Selbstbewusstsein ­– und lässt Zava nach Höherem streben. Künftig will das in Hamburg und London ansässige Unternehmen auch Anlaufstelle für die Fälle werden, in denen reine Fernbehandlungen nicht möglich sind. Gleich zwei Übernahmen sollen dabei helfen. Zum Jahreswechsel kaufte Zava erst das Berliner Start-up Medlandes, das über seine App Hausbesuche von Bereitschaftsärzten vermittelt.

Dann landete noch sprechstunde.online im Einkaufskorb.  Das Essener Unternehmen vertreibt Software, mit der niedergelassene Ärzte auf eigene Faust Videosprechstunden anbieten können. Entscheidend dabei sei der Kundenstamm von 12.000 Ärzten und Therapeuten gewesen, sagt Meinertz. „Zava verfügt nun über ein großes Netzwerk, um Patienten bei Bedarf auch in eine Praxis vor Ort weiterzuvermitteln.“

Zeit für den Exit

Mit seinem Expansionsdrang ist Zava auf dem noch jungen Telemedizin-Markt nicht allein. Gleich zwei Konkurrenten haben den Corona-Boom 2020 für einen Exit genutzt: Teleclinic aus München ließ sich im Juli von der DocMorris-Mutter Zur Rose kaufen. Bei Fernarzt aus Berlin übernahm einen Monat später Marcol die Mehrheit. Das britische Investmenthaus will mit seiner Ausgründung Health Hero über Fusionen einen neuen Telemedizinkonzern formen. „Wir sehen gerade die Ausläufer einer ersten Konsolidierungswelle in Europa“, sagt Christian Weiß, Geschäftsführer des Wagniskapitalfonds Heal Capital. Gleichzeitig locke die Aussicht auf schnelle Wachstumsmöglichkeiten immer neue Start-ups in den Markt.

Vorbei ist die Phase, in denen sich Telemedizin-Anbieter erklären mussten. Aus Sorge vor Corona-Infektionen suchen immer mehr Patienten gezielt nach virtuellen Behandlungsmöglichkeiten. Umgekehrt legen auch viele Ärzte ihre Vorbehalte ab, wie eine aktuelle Umfrage des Digitalverbands Bitkom und des Ärzteverbands Hartmannbund zeigt. Demnach bieten inzwischen mehr als 17 Prozent der niedergelassenen Ärzte Video-Sprechstunden an. Vor der Pandemie waren es erst sechs Prozent. Befördert wird die Entwicklung von den gesetzlichen Krankenkassen: Die haben im vergangenen Jahr erstmals großflächig die Kosten für reine Videosprechstunden übernommen.

Vom technischen Aufrüsten der Arztpraxen profitieren vor allem Software-Unternehmen, die wie sprechstunde.online die Infrastruktur für Videokonsultationen bereitstellen. Weitere Anbieter aus der Start-up-Welt sind zum Beispiel Doctolib aus Frankreich oder auch Arztkonsultation ak aus Schwerin. Direkt an Patienten gerichtete Telemedizin-Plattformen drohen dagegen ihr Alleinstellungsmerkmal zu verlieren, wenn Online-Behandlungen nun auch vom angestammten Arzt angeboten werden.

Für jede Erkrankung ein eigenes Portal

Die Rezepte dafür, das Nachfrage-Hoch in die Post-Corona-Zeit zu retten, fallen höchst unterschiedlich aus. Telemedizin-Pioniere wie Zava oder Teleclinic wollen mehr und mehr die Rolle eines digitalen Hausarztes übernehmen – mit dem Vorteil, dass man nicht lange auf Termine warten muss. Zudem werden Patienten bei Bedarf direkt mit einem passenden Spezialisten zusammengebracht. Medikamente können sich Patienten dank Kooperationen mit Apotheken-Netzwerken vor Ort abholen oder sich per Post zuschicken lassen. Die Strategie erinnert an das Marktplatz-Modell des Onlinehändlers Amazon. „Wir müssen nicht diejenigen sein, die selbst alle Leistungen erbringen“, sagt Zava-Chef Meinertz. „Aber wir wollen diejenigen sein, die sie koordinieren.“

Für das andere Extrem stehen Unternehmen wie Wellster. Das Münchener Start-up nimmt sich eher Fach- als Allgemeinärzte zum Vorbild – und baut Gesundheitsportale, die sich bewusst auf einzelne Indikationen beschränken. 

Den Auftakt bildete 2019 GoSpring, wo sich alles um männerspezifische Intim-Probleme wie Erektionsstörungen und frühzeitigen Samenerguss dreht. Die Behandlung von Haarausfall wurde gerade auf ein eignes Portal verlagert. Weitere Anlaufstellen gibt es zu Schlafproblemen und medizinischen Selbst-Tests. Wellster plant für dieses Jahr zudem Portale zum Thema Frauen-Gesundheit sowie für psychische Gesundheit. „Wir haben schnell gemerkt, dass eine Marke für alles nicht besonders gut funktioniert“, sagt Hribernik.

Per Fragebogen zum Viagra-Kauf

Der Ansatz findet viele Nachahmer – etwa OnMedikus aus der Schweiz oder DoctorYou aus Berlin. Das gemeinsame Vorbild ist das US-Männergesundheits-Portal Hims. Gegründet vor knapp vier Jahren, ist das Start-up bereits 1,6 Milliarden Dollar wert. 

„Die neue Generation Health-Techs setzt sehr stark auf eine vertikale Integration“, beobachtet Heal-Capital-Geschäftsführer Weiß. Das bedeutet: Die Start-ups suchen sich eine Nische – und versuchen, diese mit Angeboten aus einer Hand möglichst umfassend zu besetzen.

Die Behandlungsformen variieren: Mal gibt es begleitende Therapie-Apps, mal auch Videosprechstunden. Im Fokus stehen aber – gerade beim Thema Männergesundheit – Fragebögen. Patienten kommen so an Viagra und andere Potenzmittel, ohne einem Urologen das Herz ausschütten zu müssen. Im Hintergrund überprüfen Mediziner die Angaben, stellen ein Rezept aus und reichen dieses an eine Online-Apotheke weiter. „Unsere Vision ist, die Behandlungslücken zu schließen: Viele Menschen gehen mit ihren Problemen oft nicht zum niedergelassenen Arzt. Aus Scham oder vielen anderen Gründen“, sagt Wellster-Chef Hribernik.

Auch Zava ist so groß geworden. Das hat dem unter dem Namen DrEd gestarteten Unternehmen anfangs viel Kritik eingebracht – die Ärztelobby warnte davor, dass Rezepte für Medikamente allzu leichtfertig ausgestellt werden. Das Telemedizinverbot, das der Bundesärztetag erst 2018 aufgehoben hat, umging Meinertz mit dem Unternehmenssitz in London

Doch im Unterschied zu den jungen Angreifern ist Zava thematisch immer mehr in die Breite gegangen. Neben der Fragebogen-Behandlung, die es inzwischen für 35 medizinische Anliegen gibt, bietet das Unternehmen Foto-Diagnosen sowie punktuell auch schon Video- oder Telefonsprechstunden an.

Krankenkassen übernehmen die Kosten

Der Anteil der Video-Sprechstunden soll nun kräftig wachsen. Der Grund: Nur diese werden von den gesetzlichen Krankenkassen erstattet. Meinertz setzt dabei auf die Hilfe der niedergelassenen Kassenärzte aus dem Netzwerk der neuen Tochter sprechstunde.online. Zwar könne die Software weiterhin auch losgelöst genutzt werden, versichert Meinertz. „Für viele ist es aber sehr attraktiv, auch für uns Leistungen zu erbringen.“ Vor allem Mediziner, die nicht voll ausgelastet sind, können sich so etwas dazu verdienen.

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Die Rahmenbedingungen sind günstig: Für die Abrechnung mit den Kassen galt vor Corona zunächst noch die Regel, dass einzelne Ärzte im Quartal maximal 20 Prozent ihrer Sprechstunden vor der Webcam abwickeln dürfen. Diese Begrenzung ist wegen der Pandemie ausgesetzt. Nach Plänen des Gesundheitsministerium soll die Höchstgrenze nun auf 30 Prozent angehoben werden. Der Zava-Konkurrent Teleclinic und das schwedische Start-up Kry, das mit Nachdruck nach Deutschland expandiert, werben bereits seit dem vergangenen Jahr bereits mit kostenlosen Behandlungen für GKV-Versicherte.

Um all das scheren sich die Betreiber von Spezialportalen dagegen bislang wenig. Eine Abrechnung mit gesetzlichen Krankenkassen ist etwa bei Wellster gar nicht erst vorgesehen. Das hat nicht nur regulatorische Gründe: „Wir konzentrieren uns voll auf Selbstzahler – das verspricht die höchsten Margen“, sagt Gründer Hribernik.

Mehr zum Thema: Healthtech boomt seit Beginn der Pandemie – und wird auch nach Corona weiter wachsen.

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