Warenvernichtung bei Amazon und Co Warum Entsorgung oft billiger als Spenden ist

Amazon-Warenvernichtung: Entsorgung ist oft billiger als Spenden Quelle: imago images

Onlineplayer wie Amazon aber auch klassische Handelsriesen vernichten jedes Jahr neuwertige Produkte im Wert von Milliarden. Die Kölner Organisation Innatura kämpft dagegen und wirbt Sachspenden von Unternehmen ein. Einziges Problem: das deutsche Steuerrecht.

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Ihre Mission begann mit 200.000 Flaschen Shampoo. Ein ehemaliger Kollege hatte sich 2009 bei Juliane Kronen gemeldet und gefragt, ob sie nicht jemanden kennen würde, der das Shampoo gebrauchen könne – möglichst sofort. Die Flaschen, erklärt ihr der Anrufer, würden von einem namhaften Hersteller stammen, sie seien nur falsch etikettiert worden und würden deshalb demnächst vernichtet.

Kronen, damals Partnerin der Unternehmensberatung Boston Consulting Group (BCG), ist gut vernetzt, hat Kontakt zu Hilfsorganisationen und telefoniert sich die Finger wund, um Abnehmer für das Shampoo zu finden. Vergebens. Die Flaschen werden verbrannt.

So wie die Shampoo-Flaschen werden Tag für Tag Unmengen völlig funktionstüchtiger und neuwertiger Produkte in Deutschland entsorgt. Sie werden zerhäckselt, gepresst, verbrannt – zerstört. Der Grund: Ein Verkauf lohnt sich teils nicht mehr. Und die Entsorgung ist meist die günstigste Variante. Das liegt auch am deutschen Steuerrecht.

von Henryk Hielscher, Jacqueline Goebel, Mario Brück

So lautet die bittere Lehre, die Juliane Kronen in den vergangenen Jahren erfahren musste. Seit den verbrannten Shampoo-Flaschen kämpft sie gegen die Verschwendung von Handel und Herstellern. 2011 wird sie zur Mitgründerin von Innatura, „Deutschlands erster Plattform, die fabrikneue Sachspenden bedarfsgerecht an gemeinnützige Organisationen vermittelt“, wie es auf der Homepage heißt. Das Prinzip: Soziale Einrichtungen können über unseren Onlinekatalog aus mehr als 1500 verschiedenen gespendeten Produkten wählen“, sagt Kronen. Sie zahlen fünf bis 20 Prozent des Neupreises als Vermittlungsgebühr und verwenden die Ware für den eigenen Betrieb oder geben sie kostenlos an Bedürftige weiter.

Längst ist Kronens Projekt eine Erfolgsgeschichte geworden. Zu den Spendern gehören Unternehmen wie Beiersdorf und die Drogeriekette dm.

Und auch Amazon ist dabei. Der Konzern steuerte bereits Spielzeug, Schuhe, Kleidung und Drogerie-Artikel bei. „Auf diesem Wege haben bereits rund 500 soziale Einrichtungen von Amazon-Spenden profitiert“, teilt das Unternehmen mit. Andererseits belegen Recherchen der WirtschaftsWoche und Frontal21, dass Amazon auch im großen Stil Waren vernichtet.

Amazon bestreitet die Vernichtung von Waren nicht, teilt aber mit, das Unternehmen arbeite jeden Tag an der Verbesserung von Prozessen, um „so wenig Produkte wie möglich entsorgen zu müssen“. Warum manche Produkte gespendet werden und andere nicht, bleibt offen.

Und auch Innatura-Mitgründerin Kronen weiß es nicht. Doch sie kämpft dafür, dass sich der Anteil der Spenden weiter erhöht. In den vergangenen Jahren haben Kronen und ihr Team nach eigenen Angaben Waren im Wert von insgesamt rund zehn Millionen Euro vor der Vernichtung gerettet und damit über 1000 Tonnen Abfall vermieden – eine erstaunliche Leistung. Trotzdem ist die Menge an Produkten, die alljährlich vernichtet wird, ungleich größer. Kronen schätzt, dass in Deutschland jedes Jahr Waren im Wert von sieben Milliarden Euro entsorgt werden. Weil zu viel produziert und zu wenig verkauft wurde, weil ein falsches Etikett aufgedruckt wurde oder ein Logo ausgetauscht wird. Oder auch schlicht, weil Ladenhüter die Lager verstopfen und Platz für Neues geschaffen werden muss.

„Mindestens ein Drittel dieser Waren, also Güter im Wert von mehr als zwei Milliarden Euro, sind quasi fabrikneu und wären direkt für Bedürftige verwendbar“, schätzt Kronen. Doch teils aus Unkenntnis, teils aus Bequemlichkeit geschieht das zu selten. „Hinzu kommt: das deutsche Steuerrecht“, so Kronen.

Denn einige Unternehmen würden zwar gerne mehr spenden, fühlen sich aber vom Fiskus ausgebremst, der „eine unkomplizierte Weitergabe an gemeinnützige Zwecke erschwere“, wie es zum Beispiel beim Discounter Aldi heißt. Auch bei Galeria Kaufhof sieht man sich beim Spenden „mit komplizierten Verwaltungstätigkeiten und Regeln des Umsatzsteuerrechts konfrontiert“.

Tragen am Ende die Finanzbehörden eine Mitschuld daran, dass mehr verschrottet als verschenkt wird?

Steuern als Spendenkiller

Nur ein paar Kilometer vom Kölner Innatura-Büro entfernt beugt sich Harald Elster über einen Steuer-Kommentar und versucht die Finessen von Spenden- und Umsatzsteuerrecht in einfache Worte zu fassen. Das ist nicht leicht, handelt es sich doch um ein „hochkomplexes“ Thema, wie Elster sagt. Und um ein „echtes Dilemma“.

Seit mehr als 30 Jahren arbeitet Elster als Steuerberater, ist Präsident des Steuerberater-Verbandes Köln und des Deutschen Steuerberaterverbandes und fast schon qua Amt ein Mann, den eigentlich nichts aus der Ruhe bringt. Aber beim Thema Sachspenden gerät selbst Elster in Wallung. Die Finanzbehörden bewerten Sachspenden wie einen Umsatz, auf den das Unternehmen eben Umsatzsteuer zahlen muss. Denn die Ware, so das Argument, wurde auch mit Vorsteuerabzug eingekauft. Wird ein Produkt dagegen vernichtet, gilt es als wertlos, es fällt keine Umsatzsteuer an.

Für Unternehmer läuft das auf eine einfache Rechnung hinaus. „Ist die Entsorgung billiger als der Steueraufwand, werden die Produkte weggeworfen“, sagt Elster. Für Menschen, die von den Spenden profitieren würden, sei das „kaum nachvollziehbar“ und aus Umweltsicht „im Grunde eine Sauerei“. Doch Aufgabe des deutschen Steuerrechts, so Elster, sei es eben auch zu verhindern, dass Spenden den Wettbewerb verzerren, weil palettenweise Produkte unversteuert weitergereicht werden.

Hier zerstört Amazon seine Waren
Bereit für den Schredder: In dutzenden gelben Transportkisten, ordentlich gestapelt auf Holzpaletten, werden in diesem Amazon-Lager Spielzeug und Technik gelagert. Sie sind für die Zerstörung vorgesehen. Recherchen von WirtschaftsWoche und Frontal21 zeigen, dass der Online-Händler massenhaft Retouren und Neuware vernichtet.Einblicke in das System: Warum Amazon im großen Stil Waren zerstört, lesen Sie in der großen WirtschaftsWoche-Geschichte.
Produkte, die im Bereich mit „Destroy“-Schildern landen, stehen unmittelbar vor der Zerstörung.
Entweder werden sie auf Paletten gesammelt und von Entsorgungsunternehmen abgeholt - oder gleich vor Ort in gigantische Pressen geworfen.
„Presse auf, Ware rein, Presse zu. Das ist ganz einfach“, sagt ein Augenzeuge zum Vorgang.
Soda-Streamer, Parfüm, Waschmittel: Im Onlinehandel werden tonnenweise Retouren und sogar neuwertige Produkte zerstört.
Auch Kleidung ist davor nicht sicher.
„Jeden Tag habe ich Waren im Wert von rund 23 000 Euro vernichtet“, sagt eine Amazon-Mitarbeiterin.Einblicke in das System: Warum Amazon im großen Stil Waren zerstört, lesen Sie in der großen WirtschaftsWoche-Geschichte.

Auf das „Dilemma“ reagierten Politik und Finanzbehörden bislang nur im medialen Notfall. 2012 etwa, als Online-Portale und Zeitungen über den „Brötchen-Blödsinn“ schrieben, der einen sächsischen Bäcker ereilte. Der sollte mehr als 5000 Euro Steuern nachzahlen, nachdem er Brot und Brötchen vom Vortag an die örtlichen Tafeln gespendet hatte. Die Behörden lenkten ein und legten fest, dass Lebensmittel kurz vor Ablauf der Mindesthaltbarkeit keinen Wert mehr haben, weshalb beim Spenden keine Umsatzsteuer anfällt.

Nach und nach wurde die Entscheidung zwar ausgeweitet. „Die Oberfinanzdirektion Niedersachsen hat inzwischen klargestellt, dass nicht nur Lebensmittel, sondern auch Artikel im Non-Food-Bereich verkaufsunfähig sein können, etwa aufgrund von Verpackungsfehlern oder falschen Etiketten“, sagt Birgit Weitemeyer, Steuerprofessorin an der Bucerius Law School und Direktorin des Instituts für Stiftungsrecht. „Der Marktpreis liegt dann nahe Null und das Steuerthema hat sich damit de facto erledigt.“
Doch das gilt nur für einen kleinen Teil der Warenflut. „Sobald sich bei einem Verkauf ein Preis erzielen lässt, bleibt es bei der Steuerpflicht, auch wenn gespendet wird“, sagt Elster. Die Grenzen seien dabei fließend. Was ist zum Beispiel mit Fernsehern, die der Hersteller loswerden will, um die nächste Gerätegeneration zu verkaufen? Was gilt für Kleidung aus der Vorsaison, Möbel mit kleinen Macken oder ältere Smartphones?

„Für Unternehmer besteht das Risiko, bei einer späteren Betriebsprüfung mit Nachforderungen nebst Zinsen konfrontiert zu werden“ sagt Elster. Das halte viele von Sachspenden ab.

Juliane Kronen wirbt deshalb nicht mehr nur bei Unternehmen für mehr Spenden. Sie wendet sich auch an die Politik. Nicht nur die Unternehmen, sondern auch die Gesetze müssen sich ändern, sagt sie. Bis dahin will sie weiterkämpfen.

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