WirtschaftsWoche: Herr Kümper, Ihr aktuelles Buch heißt „Der Traum vom Ehrbaren Kaufmann. Die Deutschen und die Hanse“. Warum erlebt die Idee gerade jetzt eine Renaissance?
Hiram Kümper: Ich glaube ja, das kommt nicht von ungefähr. Der Ehrbare Kaufmann taucht immer eher am Ende von großen Konjunkturzyklen auf und wird dann der strahlende Ritter, der dem schwindenden Vertrauen in die Wirtschaft etwas entgegensetzt: Ende des 19. Jahrhunderts, am Ende der Wirtschaftswunderjahre, Anfang der 2000er – und auch heute wieder. Der Begriff ist allerdings aufgeladen: Da werden oft Ehrbarkeit und Ehrlichkeit verwechselt, da wird eine ethische Grundhaltung propagiert, ohne zu fragen, wie sie auch praktisch herbeigeführt werden soll. Dabei war „ehrbar“ ursprünglich ein Standesbegriff. Er hob zum Beispiel die Ratsmänner aus der Bürgerschaft hervor, die sich damit eine besondere Würde verliehen. Und diesen Titelanspruch übernahmen dann im 17. Jahrhundert in manchen Städten auch die Kaufleute für sich.
Und ehrbar bedeutete für diese Kaufleute etwas anderes als ehrlich?
Diese häufige Verwechslung macht das Reden vom Ehrbaren Kaufmann so attraktiv und gleichzeitig schwierig. Ehrbarkeit bedeutet historisch ja erst einmal nur, dass man von seinesgleichen als besonders regelkonform anerkannt ist und dass diese einem vertrauen. Das heißt aber nicht, dass man immer ehrlich ist. Auch ein Mafioso kann ehrbar sein. Aber eben im Rahmen des Wertkodex der Mafia. Außerhalb wird man viele seiner Handlungen vermutlich anders bewerten.
Ehrbarkeit umfasst also die Verhaltenscodes innerhalb einer Gruppe?
Genau. Es geht um Verlässlichkeit, um das Einhalten der Regeln – aber eben nicht allgemeingültiger, sondern gruppenspezifischer. Im Mittelalter sagte man „ere und gelove“: Ehre betrifft den Kaufmann, „gelove“ das, was andere in ihm sehen, man könnte es mit Vertrauen übersetzen.
Somit wäre es kein Widerspruch, wenn Händler untereinander Preisabsprachen treffen, obwohl das für die Kunden nicht unbedingt ehrenhaft rüberkommt?
Absolut. Oder wenn man zum Beispiel Schmiergeld bezahlt. Wenn es innerhalb der eigenen Peers als nötig und angemessen erachtet wird, so etwas zu tun, torpediert das nicht die Ehrhaftigkeit. Der Bürger auf der Straße mag das dann anders sehen. Und genauso war es auch im Mittelalter. Wenn Hansekaufleute oder Italiener zum Beispiel in London vom König Privilegien erworben hatten, dann war es natürlich vollkommen unproblematisch, dass dadurch andere vom Handel systematisch ausgeschlossen wurden.

Wie wurde Ehrbarkeit gegenüber Kunden kommuniziert?
Gar nicht. Kundenkontakt hatte der Hansekaufmann eigentlich kaum, das übernahmen die Krämer vor Ort. Entscheidend war das Netzwerk: Briefe, Empfehlungen, Bruderschaftsfeste. In die Moderne übertragen könnte man es mit dem Bitcoinsystem vergleichen: Man validiert sich gegenseitig durch Empfehlungen. Aber je stärker diese Wirtschaft wächst, sich auch globalisiert, desto seltener ist dieser Vergleich noch möglich. Da sind auch virtuelle Empfehlungssysteme nur ein schwacher Ersatz.
Sie beschreiben in Ihrem Buch, dass der ehrbare Kaufmann heute besonders bei Beratern sehr beliebt sei. Was raten diese den Unternehmern – und haben sie das Konzept verstanden?
Es gibt zwei Varianten. Die eine ist reiner Kitsch, ohne dass daraus etwas folgt. Der Ehrbare Kaufmann wird in der heutigen Businesswelt häufig als ein Wertekodex missverstanden und dann blumig beschrieben, ohne zu fragen, wie diese Werte in konkretes Handel umgesetzt werden. Das war bei der Hanse nie die Intention. Werte hat man, die werden einem nicht zugeschrieben. Dabei ist so ein Wertekodex durchaus sympathisch, aber solange man ihn nur normativ setzt, ist er reines Marketing: Compliance nach innen, Responsibility nach außen. Aber es gibt auch kluge Ideen. Im Bereich der Industrie- und Handelskammern etwa, denn die haben auch Mechanismen entwickelt, um die Zugehörigkeit zum Netzwerk und damit den Zugang zum Markt an Überprüfung knüpfen: zum Beispiel auch Schiedsgerichte, die die Einhaltung von Prinzipien überwachen können. Auch bei der noch heute bestehenden „Vereinigung eines Ehrbaren Kaufmanns“ in Hamburg trägt die Idee: Wer sich nicht gut verhält, wird ausgeschlossen.
Das klingt so, als würde es perfekt zur Start-up Szene passen, in der sich auch einige Gründer wieder mit dem Begriff des Ehrbaren Kaufmanns beschäftigen.
Ich glaube, dass das Konzept in dem Bereich sehr gut funktionieren kann. Man ist darauf angewiesen, dass andere einem das „gelove“ entgegenbringen. Und es ist sympathisch, dass viele Gründer offenbar eher „Ehrbarkeit“ sagen und „Ehrlichkeit“ meinen. Wenn man beide Begriffe zusammenbrächte, wäre es natürlich ideal. Ehrbarkeit funktioniert losgelöst von bestimmten Werten. Wenn man in der Szene sagt: „Uns sind Nachhaltigkeit und soziales Handeln wichtig und wir finden es ehrbar, diese Werte zu teilen“ – das wäre ja genau die Vision, wo wir als Gesellschaft hinwollen. Das wäre phantastisch.
Das klingt, als käme jetzt ein großes Aber...
Für die Implementierung braucht es dann eben wieder Mechanismen der Ehrbarkeit, die das auch wechselseitig überprüfen. Gerade beim Nachwuchs kann das gut funktionieren, weil der Zugang zum Kapital selbst eine gewisse Kontrollfunktion erfüllen kann. So funktionierte auch der Handel innerhalb der Hanse. Regelmäßig bekamen da Handelsgesellen mit null Eigenkapital Geld mit, sollten Handel treiben und am Ende wurde fifty-fifty geteilt. Das ist wie ein guter Investor mit einem Start-up. Das kann auch mal schiefgehen, dann ist man das Geld eben los. Aber der Handelsgeselle hatte etwas gelernt und beim nächsten Mal würde es dann klappen. Unterm Strich funktionierte dieses System ja über lange Zeit erstaunlich gut – wohl auch, weil die Hansekaufleute Meister im Diversifizieren, in der Arbeit mit kleinen Summen, im „Ameisenhandel“ waren.
Sagen Sie bloß, dass die Hanse-Kaufleute schon in einem Pendant zu den heutigen Fuck-up-Nights das Scheitern gefeiert haben!
Nun, gefeiert hat man Verluste sicher nicht, aber wegen Wind und Wetter auf den Seewegen war die Verlustquote ohnehin immer eingepreist. Die Gewinne waren damals außerdem sehr hoch. Die Hanse hat Wirtschaftsräume verbunden, die sehr unterschiedlich waren. Von Pelzen und Bernstein aus Nowgorod bis hin zu hochentwickelten Wirtschaftsräumen, wie etwa Flandern, und deren fast industriell hergestellten, hochqualitativen Tuchwaren. Wenn da mal was ausfällt, fällt es eben aus
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Das Scheitern des hansischen Nachwuchses war einkalkuliert, solange es sich in Grenzen hielt. Und der gemeinsame Handel, das Herumschicken des Nachwuchses durch die hansische Welt hatte natürlich nicht nur die Funktion, unmittelbare Gewinne zu erzielen, sondern noch ganz andere: Netzwerkbildung nämlich. Das Geld bleibt in Bewegung, man ist stets über Neuigkeiten informiert, man knüpft neue Kontakte an wichtigen Standorten. Das alles sind geldwerte Nebeneffekte, wenn man einen jungen Kerl mit etwas Geld losschickt – auch, wenn er dann vielleicht mal nicht die großen Gewinne einfährt. Das haben die Hansen schon klug gemacht. Aber eben auch, weil da kaum Riesensummen bewegt wurden. Alles mit Maß – das ist schon so eine hansische Tugend, die viel mit Ehrbarkeit zu tun hat.
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