Zum Jahresende blicken viele Menschen, gerade wir Journalisten, auf das abgelaufene Jahr zurück und fragen, was das nächste bringen wird. Warum tun wir das? Liegt es nur daran, dass die Jahreszahl auf dem Kalender sich ändert?
Zunächst einmal ist das biologisch bedingt: Auch Tiere spüren, dass die Tage wieder länger werden. Dazu kommt eine jahrtausendealte kulturelle Prägung. Die Wintersonnenwende war und ist in allen Religionen und Gesellschaften von größter Bedeutung. Dieses Ende des Jahres wurde als bedrohlich wahrgenommen. In allen Kulturen gibt es die Vorstellung einer Lücke, die in etwa der Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr entspricht. Und durch diese Lücke, so die Vorstellung, könnten böse Geister einbrechen. Daher kommen diese ganzen Rituale. Die Silvesterknallereien sollen die bösen Geister zu vertreiben. Wünsche sollen auf magische Art und Weise das Geschehen im neuen Jahr beeinflussen. Die Sorge um die Zukunft ist im Menschen ganz tief verankert, auch neurobiologisch. Wir vollziehen diese Bräuche, ohne zu wissen, wo das alles herkommt. Wünsche sind im Grunde nichts anderes als Beschwörungsformeln. Eine ganz abgeschwächte Form sind Wünsche , sich zu ändern. Weniger Rauchen, mehr Sport und so weiter. Gute Vorsätze sind der letzte Abglanz dieser starken Beschwörungsformeln.
Gute Vorsätze richten sich also ursprünglich nicht an uns selbst, sondern an eine Gottheit?
Ja. Auch wenn ich „Guten Tag“ sage, ist das eigentlich eine magische Beschwörungsformel, die davon ausgeht, dass Wünsche irgendeine Kraft haben. In der ganzen Welt gibt es diese Formeln.
Warum fällt es uns so schwer, unsere eigenen Vorsätze zu realisieren? Warum ist unser Gehirn so widerspenstig?
Es ist schwer, andere Menschen zu verändern. Und sich selbst zu verändern, ist noch schwerer. Ich selbst bin ein schlechter Adressat für meine Wünsche. Insbesondere weil ich mir selbst der schlechteste Schiedsrichter bin. Zweitens weil ich aus komplizierten Gründen mich selbst gar nicht durchschauen kann. Ich bin wie ein Regierungssprecher, der bei der entscheidenden Kabinettsitzung nicht dabei war. Der allergrößte Teil dessen, was in unserem Gehirn vorgeht, ist unserem Bewusstsein nicht zugänglich. Einschließlich der Intentionen und Gefühle. Das Bewusstsein erfasst nur einen ganz kleinen Teil dessen, was das Gehirn mit uns macht. Wir glauben, dieser kleine Teil sei die Welt, aber darunter ist sehr viel mehr. Der außen stehende Fachmann, also der Psychologe, Psychiater oder Hirnforscher, kann besser in den Menschen hereinschauen als er selbst. Menschen haben häufig ein extrem verzerrtes Bild von sich - und reden auch so. Normalerweise ist es relativ zwecklos, am 31. Dezember zu sagen: Nächstes Jahr werde ich mich bessern. In der Regel wird sich nichts ändern, weil der Anlass falsch ist. Es ist eben nur ein Ritual. Ich freue mich schon auf den 31. Dezember, wo ich mir wieder vornehme, dies und jenes zu ändern, was ich aber eigentlich nicht ändern will.