Handyfreie Zone Endlich wieder Ruhe im Alltag

Die Sehnsucht nach der handyfreien Zone war noch nie so groß wie heute. Wellnesshotels und Klöster bieten Wege zum kompletten Abschalten. Doch das kann ziemlich anstrengend sein.

  • Teilen per:
  • Teilen per:
Sendepause: Sennalpe Spicherhalde, oberhalb des Bergdorfs Balderschwang, mitten im Oberallgäuer Naturpark Nagelfluhkette. Quelle: Laif

Mit Karl Traubel unterwegs zu sein, heißt zu gehen. Schritt für Schritt, weg vom Lärm, von allem, was stört und ablenkt, vom überflüssigen Gerede, vom Telefon, das pfeift und brummt.

Zum Beispiel auf dem Weg von Balderschwang zur Sennalpe Spicherhalde, an einem Sommernachmittag, auf 1450 Meter Höhe. Dann sagt Traubel nur das Nötigste, zeigt etwa auf den gelben Enzian am Wegrand. Oder er weist auf das Gestein hin, das wie Bauschutt aussieht und im Allgäuer Volksmund Herrgottsbeton heißt. Ansonsten Stille, gut hörbar, begleitet vom knirschenden Kies unter den Sohlen – und vom Läuten der 40 Kuhglocken. Die Kühe werden täglich in der Spicherhalde gemolken für den Bergkäse.

Der Hotelier Karl Traubel, der hier, auf der Spicherhalde, gern in der Stube sitzt, liebt den Käse, eine „Kombination aus Appenzeller und Gruyère“, ein Gaumenkitzel, vor allem, wenn man ihn sich mit einer Beerenauslese im Mund zergehen lässt. In seinem Haus, der Hubertus Alpin Lodge & Spa, drunten in Balderschwang, dem Oberallgäuer Bergdorf, mit 330 Einwohnern Deutschlands höchstgelegene und Bayerns kleinste eigenständige Gemeinde, gehört der Käse zu den Delikatessen. Der Gast kann ihn sogar eintauschen – gegen den Lärm der Welt. Wenn er sein Handy an der Rezeption abgibt, erhält er ein schönes Stück Käse von der Spicherhalde als Gegengabe, „ohne schädliche Strahlung“.

Für mehr Achtsamkeit im Alltag
Meditieren ist nicht nur etwas für Esoteriker, sondern auch bei deutschen Führungskräften ein wichtiges Thema. Gemeinsam mit "Year of the X" hat die WirtschaftsWoche im Zen-Kloster Buchenberg im Allgäu ein Retreat organisiert und Führungskräfte, Neurowissenschaftler sowie buddhistische Mönche eingeladen, um der Frage nachzugehen, wie ein achtsames Leben aussehen kann. Der Name der Veranstaltung: "Mindful leadership in the digital age". Quelle: Wolf Heider-Sawall für WirtschaftsWoche
Viele Menschen sind - gerade im Beruf - überfordert durch fast unzählige Kommunikationskanäle. Aus dem Leben wegzudenken sind diese aber auch nicht, vielfach erleichtern sie sogar das Alltagsleben. Obwohl sie doch ständig “on” sind, fühlen sich viele Leader und Mitarbeiter in Unternehmen wenig “connected”, berichten über Sinnkrisen und suchen nach neuen Ufern für ihre Selbstentfaltung. Burnouts, gescheiterte Familien, fruchtlose Meetings und “low energy” sind die Symptome des digitalen Zeitalters. Zeit, sich wieder auf sich und sein Leben zu besinnen... Quelle: Wolf Heider-Sawall für WirtschaftsWoche
... etwa beim gemeinsamen Meditieren - morgens um 5.30 Uhr. 25 Minuten dauert eine Meditationsrunde in der Regel - insgesamt drei stehen morgens an, meist verbunden mit einer Teezeremonie. Menschen, die sich für bis zu drei Monate in das Kloster zurückziehen, folgen einem strikten Tagesablauf, der aus Meditieren, Vieraugengesprächen mit dem Zen-Meister, Arbeit, Essen und Sport besteht. Quelle: Wolf Heider-Sawall für WirtschaftsWoche
Zen-Meister im Daishin Zen Kloster ist Hinnerk Polenski, der von einem japanischen Meister ausgebildet wurde. Er leitet das Haus im Allgäu und bietet dort verschiedene Seminare für Anfänger und Fortgeschrittene an. Quelle: Wolf Heider-Sawall für WirtschaftsWoche
Aber nicht nur die persönliche Einkehr stand beim "Mindful leadership in the digital age" auf dem Programm, sondern auch die inhaltliche Auseinandersetzung mit den Themen Achtsamkeit und neurowissenschaftlichen Betrachtungen. So sprach etwa WirtschaftsWoche-Herausgeberin Miriam Meckel über das Gehirn als Produktivitätsfaktor der Zukunft - und zeigte dabei, wie die Hirnleistung mit Medizin und Technik bereits heute gesteigert werden kann. Quelle: Wolf Heider-Sawall für WirtschaftsWoche
Der Neurowissenschaftler Antonio Chevez zeigte live, wie sich die Aktivitäten des Gehirns verändern, sobald sogenannte Alphawellen eingesetzt werden. Diese reduzieren den Stress, dem unser Gehirn ständig ausgesetzt ist, weil es alle Arten von Reizen verarbeiten muss. Quelle: Wolf Heider-Sawall für WirtschaftsWoche
Über Kopfhörer spielte Chevez der Versuchsperson Alphawellen vor. Schon nach wenigen Sekunden veränderte sich die Gehirnaktivität, wie auf den Bildschirmen im Hintergrund zu sehen ist. Nach einigen Minuten wechselte die Farbe von rot zu grün. Quelle: Wolf Heider-Sawall für WirtschaftsWoche

„Funkstille“ heißt das „ganzjährige“ Angebot, eines der am fleißigsten gebuchten, wie Traubel versichert: vier Übernachtungen (ab 695 Euro) inklusive Postkarten-Service – „mal wieder offline die Lieben zu Hause grüßen“. Es ist ein niedlicher Marketinggag, aber mit therapeutischer Absicht. Die Gäste sind eingeladen, sich ein paar Tage auf digitale Diät zu setzen, weg vom ewigen Stand-by, vom mobilen Hochleistungsvirtuosentum via Smartphone und Laptop. Was sie außer einem Stück Käse dafür gewinnen? Im besten Fall ein gesteigertes Gefühl für die Wirklichkeit, für die Gegenwart der Dinge, womöglich für sich selbst – wenn sie es denn bei sich aushalten.

Traubel möchte, dass seine Gäste in der Stille das Sehen wieder erlernen, die Tugend der langsamen Augen. Dass sie Mut zum Innehalten finden, zum gelassenen Ein- und Ausatmen der Gegenwart. Mit diesen Wünschen liegt er im Trend.

Die Einladung zum „elektronischen Fasten“ hat mittlerweile Schule gemacht, gern gekoppelt mit dem Lob der Achtsamkeit. Mit der körperlichen Wellness hat eine kleine Hotelelite, von der Luxusherberge bis zum Landgasthof, die geistig-seelische Wellness entdeckt, die Selbstsorge um das mentale Wohlbefinden. Dazu gehört nicht zuletzt der Sinn für digitale Sendepausen, für die Schonräume der Beruhigung, für die Wohltaten der Stille. Der Weg zur geistig-seelischen Läuterung, so die Idee, führt über den elektronischen Verzicht.

Längst gibt es auch ein Schlagwort dafür: „Digital Detox“, digitale Entgiftung. Es kommt aus Kalifornien, aus dem Silicon Valley, dem Epizentrum der Onlinemania, wo 2012 die ersten „Digital Detox“-Camps entstanden, als Gegenzentren der Stille, mit strengen Abstinenzregeln: Briefpapier statt Handy.

Mit dergleichen Labels hatte Traubel zunächst gar nichts im Sinn, als er vor vier Jahren auf die Idee mit dem Käse-Handy-Tausch kam. Womöglich hatte er einfach nur Mitleid mit den Gästen in der Lobby, die stundenlang, „wie Gefangene“, in „kleine rechteckige Kästen“ starrten oder vorm Eingang hin- und hergingen, „mit gesenktem Blick“, anstatt sich die schöne Allgäuer Gegend anzuschauen. Ja, können die nicht mehr ohne das Gerät zwischen sich und der Welt in die Landschaft schauen?, fragte sich der Hotelier. Müssen die auch im Urlaub „krampfhaft“ die Verbindung halten mit dem Geflimmer der Onlinewelt?

Inhalt
Artikel auf einer Seite lesen
© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%