




Seit knapp einem Jahr haben Eltern einen Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz. Doch während der Ausbau der Kitas in den vergangenen Jahren im Fokus stand, hinkt der Ausbau der Ganztagsschulen in Deutschland hinterher. Das belegen Zahlen einer Studie der Bertelsmann Stiftung, die am Donnerstag veröffentlicht wurde. Demnach wurden von 2003 bis 2009 pro Jahr rund 175.000 Ganztagsplätze geschaffen, seither kommen jährlich im Schnitt nur noch 104.000 Ganztagsschüler hinzu.
Demnach geht jeder dritte Schüler (32,3 Prozent) ganztags zur Schule. Allerdings wünschen sich Umfragen zufolge 70 Prozent aller Eltern einen Ganztagsplatz für ihr Kind. Es gibt eine Lücke von 2,8 Millionen Plätzen. „Wenn im jetzigen Tempo weiter ausgebaut wird, wird es noch 20 Jahre dauern, bis diese Marke erreicht ist“, erklärt Jörg Dräger, Bildungsexperte im Stiftungsvorstand.
Rechtsanspruch auf Ganztagsschulen-Platz
Dies bedeutet eine große Belastung für Familien und vor allem für arbeitende Mütter: „Trotz der vielen aktiven Väter ist es immer noch überwiegend die Frau, die sich um Erziehung und Bildungsbegleitung kümmert“, betont Cornelia Spachtholz, Vorstandsvorsitzende des Verbands berufstätiger Mütter. Für Frauen zeichneten sich daher nach dem Wiedereinstieg in den Beruf deutlich zwei Brüche ab: „Der eine beginnt mit der Einschulung des Kindes, der zweite mit dem Wechsel in die weiterführende Schule.“ Minijobs und Teilzeit ohne Karriereperspektiven seien oft die Konsequenz. Der Verband berufstätiger Mütter fordert daher schon seit Jahren einen Rechtsanspruch auf den Besuch einer Ganztagschule bis mindestens zum 14. Lebensjahr.
Die fehlenden Plätze sind aber nicht nur ein Problem für die Familie selbst. "Der Ausbau der Ganztagsschulen muss beschleunigt werden, weil sie eine bessere Förderung aller Kinder und damit mehr Chancengerechtigkeit ermöglichen", erklärt Dräger. Auch die Bertelsmann Stiftung sieht im Rechtsanspruch den „entscheidenden Hebel“ für einen bedarfsorientierten Ausbau in ganz Deutschland.
Derzeit gibt es zwischen den Bundesländern erhebliche Unterschiede: In Sachsen gingen der Studie zufolge im vergangenen Schuljahr 79,1 Prozent und in Hamburg 61,7 Prozent der Schüler ganztags zur Schule, in Baden-Württemberg waren es dagegen nur 18,9 Prozent und in Bayern sogar nur 12,4 Prozent.
Auch bei der Organisation des Ganztags zeigen sich deutschlandweit große Unterschiede. Rund 18 Prozent der Schüler haben Zugang zu einer offenen Ganztagschule, an deren Nachmittagsangebot nicht die ganze Klasse teilnimmt. Nur 14,4 Prozent gehen hingegen in eine so genannte gebundene rhythmisierte Ganztagsschule mit verpflichtendem Lernangebot über den ganzen Tag. Doch gerade diese Form des Ganztags schreiben Wissenschaftler besonders große Möglichkeiten beim sozialen und kognitiven Lernen zu. „Es geht um einen Wechsel von Anspannung und Entspannung, um gut lernen zu können. Deshalb setzen auch wir uns dafür ein“, sagt Spachtholz.
Denn: Ein verbindlicher Stundenplan, der bis in den Nachmittag reicht und zwischen den Lernphasen Kreativphasen vorsieht, sei am besten, um Kinder effektiv und individuell zu fördern. Bereits 2007 hat der Verband berufstätiger Mütter ein umfassendes Positionspapier erarbeitet, in dem es um die qualitativen Vorteile der gebundenen rhythmisierten Ganztagsschule geht.
Mindestens acht Milliarden Euro für Ausbau
Sowohl im quantitativen als auch im qualitativen Ausbau der Ganztagschule sehen die Experten der Bertelsmann Stiftung eine „nationale Kraftanstrengung“, die in Zahlen ausgedrückt bei mindestens acht Milliarden Euro pro Jahr liegen werde. Wichtig sei es, dabei nicht nur an die entstehenden Kosten, sondern auch an den Nutzwert zu denken, betont Werner Eichhorst, Direktor Arbeitsmarktpolitik Europa am Institut zur Zukunft der Arbeit in Bonn. „Es geht um das qualitative Erwerbspotenzial, das vor allem bei Frauen oft brach liegt und dringend besser genutzt werden muss.“ Generell seien qualifizierte Arbeitskräfte jetzt schon Mangelware, durch den demografischen Wandel werde das in Zukunft nicht besser. „Gerade in einem Land wie Deutschland sind Bildung und Innovation die Antriebsfedern für ökonomisches Wachstum. Lernen, und zwar von Klein auf bis ins Hohe Alter, ist eine wichtige Ressource“, betont Spachtholz.