




Lena* (22) studiert Jura in Tübingen, sie weiß, was sie kann, zählt zu den Guten in ihrem Semester. Doch, dass das kein Allheilmittel ist, um an einer Uni zu bestehen, weiß sie jetzt auch. "Es war echt keine gute Idee, meine Hausarbeit auf dem iPad zu schreiben. Aber mein Laptop war kaputt, und ich hatte kein Geld für ein neues." Und mit dem geliehenen Gerät ihrer Eltern und der kleinen Tastatur dazu gehe es schließlich auch, dachte Lena. Nur nicht, wenn man in der Bibliothek schreibt und sich mal kurz vom Platz entfernt. "Ich war für eine Minute weg, um ein Buch zu holen", erklärt die Studentin. Als sie wiederkam, war das iPad noch da, aber die Hausarbeit gelöscht.
Lena kann es bis heute nicht fassen: "Es gibt immer Gerüchte darüber, dass wichtige Bücher versteckt werden, um sich einen Lernvorsprung zu sichern. Und die, die man aus dem Hörsaal nicht kennt, denen hilft man vielleicht auch nicht so gerne." Aber eine Arbeit von mehreren Wochen einfach löschen? "Ich hätte nicht gedacht, dass meine Kommilitonen so gerissen und gemein sind. Ich war viel zu naiv, hätte mir meinen Text einfach per Mail zuschicken sollen, um ihn zu sichern.“ Jetzt ist Lena um eine schmerzvolle Erfahrung reicher - und viel misstrauischer: "Wenn ich im Wohnheim in die Gemeinschaftsküche gehe, schließe ich mein Zimmer immer ab."
Wie rau der Alltag an der Uni sein kann, zeigt auch ein Aufruf in einer Facebook-Gruppe an der TU Kaiserslautern. Darin schreibt eine Maschinenbau-Studentin: "Dieser Beitrag richtet sich an die Person, die heute Vormittag in der Zentralbibliothek meine TM2-Altklausuren mit einigen Rechnungen geklaut hat, die mir zum Bestehen der Klausur sehr wichtig sind. Ich hoffe, Du bist zufrieden und bestehst die Klausur dennoch nicht! Jemand, der so was macht, verdient das nun mal nicht! Wenn Du nur einen Tropfen Menschlichkeit in der Dir hast, gibst Du sie wenigstens in der Bibliothek anonym wieder ab."
Dass der Konkurrenzdruck und damit der unlautere Wettbewerb vor allem in Fächern wie BWL, Medizin und Jura zunehmen, bestätigt auch die Statistik. Laut Forscher der Universität Konstanz liegen dabei die angehenden Juristen ganz vorn: Jeder zweite (51 Prozent) gibt an, dass starker Konkurrenzdruck in seinem Fach besteht, und 42 Prozent haben damit "einige" und "große" Schwierigkeiten. Die Erklärung dafür liegt nahe: "Ohne gute Abschlussnote ist es undenkbar, in den Staatsdienst zu kommen oder einen guten Job in der Wirtschaft zu ergattern", erklärt Michael Ramm von der AG Hochschulforschung, Konstanz.
Wie mache ich wo am schnellsten Karriere?





Gute Noten zu haben, aber auch der Anspruch an sich selbst, schnell zu studieren und gleichzeitig mit Praktika, Auslandserfahrungen und mehreren Fremdsprachen zu punkten - so laute generell das Credo vieler Studenten von heute. „Die Herausforderungen sind eben gewachsen in unserer globalisierten Hetzwelt", erklärt Diplom-Psychologe, Bernd Nixdorff, der schon seit rund 20 Jahren Studenten an der Uni Hamburg als psychologischer Berater unter die Arme greift. "Ende 20 muss schon alles eingetütet sein. Im Job und im Privaten am besten auch noch." Solidarität und Gemeinsinn blieben dabei immer mehr auf der Strecke. "Die wichtigste Frage unter den Studierenden lautet heute: Wie mache ich wo am schnellsten Karriere?" Doch damit setzten sich die jungen Menschen nicht nur einem starken Konkurrenzdruck aus, sondern sich selbst unter Dauerstress: "Bei unseren Erhebungen geben bis zu 20 Prozent an, unter großem Druck zu stehen und sich gehetzt zu fühlen." Sich selbst zugestehen, auch mal Fehler machen zu dürfen, sei geradezu undenkbar. Es gehe schlicht darum, zu funktionieren.
Auch Professor Rainer Holm-Hadulla, Leitender Arzt der Psychosozialen Beratungsstelle der Uni Heidelberg, beobachtet wachsenden, unguten Konkurrenzdruck. Und zwar auch unter Studenten der Geisteswissenschaften oder der Psychologie. "Da sagt uns etwa eine Studentin unter Tränen, dass sie ihre Freundin verloren hat. Der Grund: Sie machen jetzt beide ihre Bachelor-Prüfung, sind damit plötzlich Konkurrentinnen und Freundschaft hat da keinen Platz mehr." Zu Holm-Hadulla kommt auch der Master-Student, der Schluss gemacht hat mit seiner Freundin: "Aber nicht, weil es in der Beziehung nicht gut lief, sondern weil er meint, sich jetzt ganz und gar auf sein Studium konzentrieren zu müssen." Wer nur noch sich selbst der Nächste ist, hat aber den Anderen nicht mehr im Blick. Von einer zunehmenden Vereinzelung der Studenten spricht in diesem Zusammenhang auch der psychologische Berater aus Hamburg: "Zwar sind die Studierenden gut über Facebook vernetzt, aber gemeinsam in der Gruppe aktiv werden, das gibt es immer weniger." Nixdorff sieht darin eine Gefahr: „Sie werden immer mehr zu Einzelkämpfern."
Hohe Bereitschaft für Doping
Unter diesen Lernbedingungen ist der Wunsch naheliegend, seine Leistung zu optimieren, noch besser zu werden, alles aus sich rauszuholen. Wenn es sein muss, darf auch mal nachgeholfen werden. Laut einer Studie der Uni Mainz sind 80 Prozent der Studenten bereit, sich zu dopen, um damit ihre Leistung zu steigern. "Allerdings nur unter der Voraussetzung, dass die zu nehmende Substanz keine Nebenwirkungen hat und nicht illegal ist", ergänzt Professor Klaus Lieb, der seit 2008 an der Uni Mainz an dem Thema Hirndoping forscht. Doch auch wenn es solch eine "Zauber"-Pille nicht gibt, werden Substanzen wie Amphetamine, Metylphenidat (Ritalin) oder Modafinil gerne ausprobiert. Wie die Mainzer Forscher belegen, betreibt zumindest phasenweise jeder fünfte Student Hirndoping. Die eingenommene Palette reicht von Koffein-Tabletten und Energy-Drinks bis hin zu verschreibungspflichtigen Mitteln wie Metylphenidat, das bei der Aufmerksamkeits-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) zum Einsatz kommt, oder Modafinil, einer Substanz, die für mehr Wachheit sorgt und bei Narkolepsie, der so genannten Schlafkrankheit, verabreicht wird.
Während die Bereitschaft für die Einnahme dieser Präparate in anonymen Umfragen nachweislich ist, outen sich Studenten an den Unis eher selten. "Die kommen nicht zu uns und sprechen darüber", sagt Bernd Nixdorff, psychologischer Berater der Uni Hamburg. Auch in den Hörsälen selbst kursieren oft nur Gerüchte über Kommilitonen, die so etwas nehmen. "Doch die Dunkelziffer schätzen wir recht hoch", sagt Klaus Lieb. "Der Gebrauch von illegalen Medikamenten unter Gesunden ist längst da." Das belegt auch der weltweite Konsum, etwa von Metylphenidat. Allein in Deutschland ist der Anstieg rasant: Wurden 1993 noch 36 Kilogramm davon verabreicht, werden seit 2010 mehr als 1,7 Tonnen abgesetzt. Tendenz weiter steigend. Und so ist auch in manchen Einführungsseminaren Hirndoping schon ein Thema. Archäologie-Student Stephan (20) wurde an der Uni Mainz vor Ritalin gewarnt. "Uns wurde abgeraten, solche Medikamente auszuprobieren. Nicht nur, weil sie illegal sind, sondern weil auch über die Langzeitfolgen noch nichts bekannt ist.“
So wirken Ritalin in Co. wirklich





"Generell wirken Medikamente bei jedem anders", erklärt Boris Quednow, Professor für Experimentelle und Klinische Pharmakopsychologie an der Psychiatrischen Universität Zürich. "Das ist bei Kopfschmerzmitteln so und erst recht bei Psychopharmaka." Eine hohe positive Standardwirkung gebe es daher nicht. "Substanzen wie Metylphenidat, Amphetamine und Modafinil verändern in erster Linie den emotionalen Zustand, erzielen, dass man sich besser fühlt. Doch das Gedächtnis wird dadurch nicht entscheidend verbessert, der IQ schon erst recht nicht." Laut Quednow versüßt es das Lernen bestenfalls - und das in Kombination mit einem nicht zu unterschätzenden Abhängigkeitspotential: "Einer von zehn trägt das Risiko abhängig zu werden." Die Crux sei zudem, dass diese Substanzen auch nur dann wirken und etwa konzentrierter, motivierter und wacher machen, wenn zuvor ein echtes Defizit vorherrsche. "Bei guten Studenten kann die Einnahme sogar kontraproduktiv sein und die Lernerfolge abschwächen“, erklärt der Experte. „Generell neigen Studenten auch dazu, sich durch die Einnahme dieser Substanzen zu überschätzen."
Klaus Lieb von der Uni Mainz weiß um den hohen Placebo- und Erwartungseffekt solcher Mittel, und auch er warnt vor den Gefahren einer Abhängigkeitsentwicklung. "Diese Substanzen gibt es ja nicht erst seit gestern, aber unsere gegenwärtige Gesellschaft ist ein zunehmend hoher Faktor für Medikamentensucht geworden. Wir leben in einer Leistungsgesellschaft, die sich selbst überdreht und nicht mehr runterkommt." Philosoph und Psychologe Stephan Schleim, derzeit mit einer Professur an der Universität Groningen, mahnt ebenfalls zur Vorsicht: "Wir wissen bis dato nicht, was diese Substanzen über längere Zeit mit uns machen." Die Langzeitfolgen seien nicht erforscht. "Man muss leider sagen, dass es im Wissenschaftsbetrieb dafür auch wenig Anreiz gibt, dies zu tun. So eine Studie müsste mindestens zehn Jahre laufen." Das bedeute: viel Müh', wenig Ehr'.
Hirn-Biologismus, neue Elterngeneration und das Internet
Gehetzt, gedopt und gemein – diese neuen Studenten-Attribute allein auf Bologna-Reform und Globalisierung zu schieben, sei zu kurz gegriffen. Darin sind sich Experten aus Forschung und Praxis einig. „Heute lässt sich neurobiologisch angeblich so gut wie alles begründen. Es gibt kaum einen Vortrag ohne ein schönes, anschauliches Hirnmodell“, erklärt Psychologe Rainer Holm-Hodulla. „Wir leben in einer Zeit, in der der Biologismus, oder besser, der Hirn-Biologismus vorherrschend ist.“ Der Griff zur Tablette sei da viel naheliegender, um das Gehirn zu stimulieren als etwa einen Spaziergang zu machen oder eine Mozartsonate zu hören. „Dabei liegt es auf der Hand, dass Freiräume und kulturelle Aktivitäten die Leistung stärken.“ Engführung und Überstrukturierung bewirkten das Gegenteil. „Es gibt nicht nur immer mehr, die sich wie in einem Hamsterrad fühlen, sondern auch immer mehr, die sich da auch hineinzwängen.“
Hochschule
"Viele laden sich in den ersten Semestern oft viel zu viel auf und kommen dann schnell an ihre Grenzen. Keiner muss zwingend nach sechs, sieben Semestern hier fertig sein", erklärt Jürgen Blank, Geschäftsführer im Fach Wirtschaftswissenschaften der TU Kaiserslautern. Ginge es nach ihm, würde er gern das 0. Semester einführen. "Die Studierenden werden immer jünger. Wir müssen ihnen Zeit zugestehen, sich zu orientieren. Es ist doch kein Scheitern, wenn man das Fach wechselt, oder etwas anderes macht." Den neuen übersteigerten Ehrgeiz führt Blank auch auf eine veränderte Elterngeneration zurück: "Die haben unsichere Jobs und Arbeitslosigkeit schon selbst kennen gelernt und wollen, dass es ihre Kinder besser haben."
Professor Boris Quednow führt die neuen Medien ins Feld: „Wir leben in einer Zeit, in der sich keiner mehr mit seiner sozialen Nische abfinden will. Durch Blogs, Facebook und Youtube fühlt sich schnell jeder als Star, der reich und berühmt sein kann. Aber die Realität sieht anders aus.“
*Name wurde von der Redaktion geändert