Bildung Der Testwahn der Bildungsforscher

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Schüler als Objekte technokratischer Konstrukte

Viele der Aufgaben sind nach dem PISA Prinzip aufgebaut: Die Texte und Grafiken der Aufgaben enthalten weitgehend schon die Antworten. Um die höchste Kompetenzstufe zu erreichen, genügt teilweise also Lesekompetenz, manchmal auch das Ankreuzen des richtigen Kästchens bei Multiple Choice Aufgaben. Hat der Schüler das Kreuz an der richtigen Stelle gemacht, gehen die Tester davon aus, dass der Schüler entsprechend ihren eigenen Gedankengängen beim Erstellen der Aufgabe das zugrunde liegende Wissen verstanden, analysiert, und bewertet hat. In Wahrheit hat der Schüler aber nur ein Kästchen angekreuzt, manchmal bei nur einer vorgegebenen, teilweise nicht mal halbwegs angemessenen Alternative. Oft sind Aufgaben nur deshalb einer hohen Kompetenzstufe zugeordnet, weil die Aufgabentexte kompliziert, teilweise verwirrend formuliert sind und in den Pilotstudien nur zu einer geringen Lösungshäufigkeit führen. Die Kompetenzstufen entsprechen in diesen Fällen keinesfalls dem inhaltlichen Schwierigkeitsgrad. 

Man muss sich fragen, wie diese Vermessungstechnokratie beispielsweise in den Sprachen funktionieren soll. Analysen und Interpretationen von Texten stellen gerade dann hervorragende Leistungen dar, wenn nicht vorhersehbare, kreative und innovative Lösungen gefunden werden, die eben nicht mit psychometrischen Verfahren messbar sind. Aber auch in den Naturwissenschaften wird die Wirkung langfristig verheerend sein: Wenn Querdenken nicht mehr gefördert wird, nur weil es vom Messinstrumentarium der Empiriker nicht erfasst werden kann, wird es keine Innovationen mehr geben. Schlimmer noch: Die Fähigkeit zur praktische Durchführung von grundlegenden naturwissenschaftlichen Untersuchungen, wie beispielsweise das Mikroskopieren von Zellen, kann mit solchen Tests überhaupt nicht erfasst werden.

Der Lehrer als Handlanger der empirischen Bildungsforschung

Verheerend ist auch die Botschaft der empirischen Bildungsforschung an die Lehrer. Was sollen sie davon halten, wenn sie demnächst zum Handlanger der empirischen Bildungsforschung degradiert werden, indem sie nur noch Arbeitsblätter aus den Ihnen übermittelten Kompetenzstufenaufgabenpools an ihre Schüler austeilen und sie wieder einsammeln, um dann mit Aufgaben vom nächsten „Kompetenzstapel“ ihre  Schüler zu beglücken und anschließend zur Auswertung an die Empiriker weiterzuleiten. Sie werden zum Diagnostiker. Aber von was? Sicherlich nicht vom Lernen und Verstehen von Inhalten, von Bildung und Wissen ganz zu schweigen.

Diese Art von papierdidaktischem pseudo-naturwissenschaftlichem Unterricht fällt allen Lehrenden in Schulen und Hochschulen in den Rücken, die bei Jugendlichen Begeisterung für Naturwissenschaften erzeugen wollen - durch praxisrelevante Darstellungen, Erfahrungen, Experimente und Exkursionen unter Berücksichtigung des Verständnisses der zugrunde liegenden Fachinhalte.

Man kann jedem verantwortungsbewussten Lehrer nur raten, sich genau zu überlegen, ob er seine Schüler an einem solchen Testwahn teilnehmen lässt. Der Chemie-Didaktiker Hans Jürgen Schmidt stellte schon nach der vernichtenden Analyse einer PISA Aufgabe zum Ozon in der MNU-Zeitschrift schon 2004 fest: „Wer an einer empirischen Untersuchung junge Menschen beteiligt, ist besonders verpflichtet sicherzustellen, dass sie keinen Schaden nehmen“.

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