Bildungsforscher Hans Peter Klein "Die Politik verabschiedet den Bildungsauftrag"

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"Die Abwärtsspirale scheint an Fahrt aufzunehmen"

Demnach wäre auch die Hochschulzulassung alles andere als angemessen. Wie sehen Sie das?
Die Abwärtsspirale im Niveau gerade im Zentralabitur scheint zwischen den einzelnen Bundesländern sogar an Fahrt aufzunehmen, da die Schüler aus Bundesländern mit deutlich niedrigeren Abiturientenquoten und Bestnoten das Nachsehen bei der Hochschulzulassung haben und die Eltern den dortigen Bildungsministerien zurecht die Leviten lesen.

Gewinner und Verlierer im Porträt
SingapurUnd der PISA-Gewinner ist ... Singapur. Zwischen 42 und 74 Punkte liegt der südostasiatische Insel- und Stadtstaat über dem OECD-Schnitt von knapp 500 Zählern - das sind Welten. Auch andere Länder haben zuletzt die Ernte in der Bildungspolitik eingefahren. Chefkoordinator Andreas Schleicher sagt: „PISA spiegelt wider, was im Klassenzimmer passiert. Die Länder, die viel getan haben, sehen verbesserte Leistungen - und die Länder, wo wenig passiert, die sehen auch wenig Gutes.“ Weil die Großregion Shanghai als PISA-Champion von 2012 diesmal nicht mehr einzeln neben China bewertet wurde, setzte sich der kleinste Flächenstaat Südostasiens (5,5 Millionen Einwohner) mit durchschnittlich 551 PISA-Punkten an die Spitze aller drei Rankings. „Dort hat jeder Lehrer etwa 100 Stunden Weiterbildung pro Jahr“, sagt „PISA-Papst“ Schleicher über Singapurs Erfolgsgeschichte. „Jede Schule unterhält professionelle Arbeitsgruppen, in denen Lehrer ihren Unterricht gemeinsam vor- und nachbereiten.“ Andere Experten heben hervor, dass dort die Unterrichtsräume hochmodern ausgestattet sind (auch in puncto digitale Medien) und dass in der Methodik „alte Zöpfe“ abgeschnitten wurden. „Pädagogische Forschung findet nicht nur an der Universität statt, sondern in den Schulen“, sagt Schleicher. Quelle: dpa
KanadaDer nordamerikanische Flächenstaat (durchschnittlich 523 PISA-Punkte) will nächstes Jahr rund 300 000 Einwanderer aufnehmen - mit guten bildungspolitischen Erfolgsaussichten. Im Gegensatz zum Nachbarland USA ist Kanada laut PISA-Chef Schleicher Musterknabe bei der schulischen Integration. Kinder aus Migrantenfamilien, besonders aus China, Indien und anderen asiatischen Ländern, schneiden in der Schule oft besser ab als Kinder kanadischer Eltern. Im OECD-Vergleich liegen sie ebenfalls vorn, etwa bei Leseverständnis und Mathematik. Viele Schulen helfen Familien in Willkommenszentren im ungewohnten Alltag. Und da Kanada Migranten teils nach vier Jahren Aufenthalt ermöglicht, Staatsbürger zu werden, sind die Lernanreize groß. Quelle: REUTERS
Finnland und SchwedenBeide skandinavischen Länder gelten als Vorbilder in Sachen Bildungspolitik. In Finnland (jetzt 522 PISA-Punkte im Schnitt) ist die Zufriedenheit nach wie vor hoch. Wegen der wirtschaftlichen Probleme wurde zuletzt aber auch an den Schulen der Rotstift angesetzt. Viele befürchten, dass die Qualität darunter leiden könnte. Geld wird in die Digitalisierung gesteckt - so sollen mehr Schüler mit Tabletcomputern arbeiten können. In Schweden gab es in den vergangenen Jahren manche Enttäuschung über das Abschneiden bei den internationalen Tests. Eine große Debatte entbrannte, als das Land 2012 unter den OECD-Schnitt abstürzte. Die rot-grüne Regierung versucht nun, das Niveau mit viel Einsatz für kleinere Klassen, einen attraktiveren Lehrerberuf und mehr Gleichheit an den Schulen zu heben. Der PISA-Punkteschnitt stieg soeben von 482 auf 495.
PolenMit im Schnitt 504 Punkten (nur knapp hinter Deutschland) gehört der Nachbar zu den bei PISA so starken östlichen EU-Ländern - dank einer ruhigen, konsequenten Bildungspolitik. „1999 wurde eine große Schulreform eingeleitet. Die wurde dann ein Jahrzehnt lang, über Parteigrenzen hinweg und trotz Regierungswechseln, Schritt für Schritt umgesetzt“, lobt OECD-Fachmann Schleicher. „Da wusste jeder Lehrer, was kommt.“ Der Erfolg wird auf die vor 17 Jahren eingeführten Mittelschulen zurückgeführt. Das Leistungsniveau wurde angehoben und die Chancengleichheit auf ein gutes Abitur erhöht, heißt es. Doch nun sehen Experten die Erfolge durch eine hastig vorangetriebene neue Schulreform bedroht: Polens Nationalkonservative wollen die Mittelschulen zum nächsten Schuljahr wieder abschaffen. Quelle: AP
KolumbienDas südamerikanische Land arbeitet sich auf den PISA-Ranglisten von ganz unten in Richtung Mittelfeld vor: Nach 392 PISA-Punkten im Schnitt (2012) sind es jetzt immerhin schon 410. „Es gab dort bis in die 90er Jahre überhaupt kein Schulsystem. Heute steht man auf dem Niveau von Mexiko - bei deutlich geringerem Ressourceneinsatz für Bildung“, sagt Schleicher. Bildungsexperte Pablo Gentili hebt hervor, Kolumbien sei ein Land, das gut 50 Jahre im Kriegszustand gelebt habe - mit über fünf Millionen Vertriebenen. Nun aber sei das System auf „permanentes Lernen“ ausgerichtet, auch kulturelle und soziale Belange spielten eine Rolle. Der Staat sorgt dafür, dass es überall adäquates Schulmaterial gibt. Mit zwei Jahren kommen Kleinkinder in Kitas, Schulen laufen meist im Ganztagsbetrieb. Dort werden nun Krieg und Friedensprozess verstärkt thematisiert. Quelle: dpa
Frankreich Im Schulsystem des westlichen Nachbarn klafft ein Graben zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Im Land von „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ beschwören Politiker die Schule oft als Motor für soziale Gerechtigkeit und Integration. Seit 1975 gibt es ein Gesamtschulmodell - alle Kinder gehen nach der Grundschule auf das Collège. Doch die PISA-Studien zeigen seit Jahren wachsende Ungleichheiten. Im breiten PISA-Mittelfeld ist Frankreich abgerutscht - von fast 500 auf zuletzt 495 Punkte im Schnitt. Wissenschaftler verweisen auf veraltete Lehrmethoden und die soziale Ghettobildung in wirtschaftlich abgehängten Vorstädten. Obwohl die Politik dort eigentlich mehr Geld bereitstellen will, ist die Unterrichtsqualität schlechter geworden, kritisiert ein unabhängiges Expertengremium. „In Bezug auf die soziale Kluft steht Frankreich deutlich schlechter da als Deutschland“, bestätigt auch PISA-Experte Schleicher. Quelle: dpa

Gerade an den aus allen Nähten platzenden Universitäten darf der sich bewerbende Abiturient nämlich wegen akutem Personalmangel nur seine im Abitur erreichte Durchschnittsnote auf einen Zettel schreiben und nur danach erfolgt die Zulassung, ein in der ganzen Welt einmaliger Vorgang. Das ist in der Tat himmelschreiend ungerecht, denn hier werden die Nivellierer des deutschen Bildungssystems auch noch belohnt und die Hochschulen vor kaum zu bewältigende Probleme gesetzt, sollten sie nicht auch in den Abwärtsstrudel mit hinein gezogen werden.

Wie man hört, werden ja immer mehr Brückenkurse für nicht studierfähige Abiturienten an den Hochschulen angeboten. Was ist der Inhalt dieser Kurse?
Da die Vermittlung von Wissen laut reformpädagogischem Credo in den Schulen den Lehrern zunehmend untersagt wird, müssen die Hochschulen nun Brückenkurse in nahezu allen Fachbereichen anbieten. Das, was noch bis vor rund zehn Jahren von der Schule geleistet wurde, wird jetzt in die Hochschulen verlagert. Dies ist nichts anderes als ein bildungspolitischer Offenbarungseid des Bundesministeriums für Bildung und Forschung, das genau diese hier beschriebene Entwicklung längst zur Kenntnis genommen hat und nun drei- bis vierstellige Millionenbeträge aus Steuergeldern dafür ausgeben muss, dass jetzt an den Hochschulen der Stoff der Mittelstufe unterrichtet wird.

PISA, TIMSS, IQB, IGLU, VERA - Schulvergleichstests im Überblick

Das wird von der Kultusministerkonferenz und der Hochschulrektorenkonferenz als Qualitätsoffensive gepriesen und an den Hochschulen wegen des unerwarteten Geldzuflusses teilweise in höchsten Tönen gelobt. Daher wird der zweite Band unserer Buchreihe den Titel haben „Für eine Handvoll Euro...“ und sich mit den Entwicklungen an den Hochschulen seit der Jahrtausendwende intensiv beschäftigen.

Könnte die angestrebte Digitalisierung des Bildungswesens denn eine Besserung für diese nicht gerade erfreulichen Entwicklungen bedeuten?
Ganz im Gegenteil. Wir befinden uns in Schulen und demnächst wohl auch in den Hochschulen in einer postfaktischen Ära, denn auch hier üben die Kultusminister- und die Hochschulrektorenkonferenz massiven Druck aus zu kompetenzorientierten Studiengängen und Prüfungen hin – bei gleichzeitiger Verabschiedung von grundlegenden Wissensbeständen, wie das HRK-Gutachten zur Einführung der Kompetenzorientierung an Hochschulen zeigt.

Im Rahmen des jetzt neu auf die Gleise gesetzten Digitalisierungszuges, der nun von internationalen Großkonzernen des Silicon Valley durch Datenklau von Schülern und Studierenden durch Algorithmen gesteuert werden soll, hat die Politik sich endgültig von ihrem ureigenen demokratischen Bildungsauftrag verabschiedet und überlässt jetzt Drittanbietern das Feld, die von nun an darüber bestimmen, was wir in ihrem Interesse wissen sollen und was nicht. Bürger mit gefühltem Wissen sind halt leichter mit Worten manipulierbar und stellen keine Fragen, wie die aus der Sesamstraße bekannten: "Wieso? Weshalb? Warum? Wer nicht fragt bleibt dumm!"

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