Bildungsforscher Hans Peter Klein "Die Politik verabschiedet den Bildungsauftrag"

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"Je anspruchsloser die Zentralabiturarbeiten, desto höher die Abiturientenquote"

Um ihre Thesen zu stützen, untersuchen sie in erster Linie das fachliche Niveau von Zentralabituraufgaben in Biologie und Mathematik. Stammen die aus allen Bundesländern?
Leider können wir nicht aus allen sechzehn Bundesländern Aufgaben auf ihr fachliches Niveau hin untersuchen, da neun von sechzehn Bundesländern trotz mehrfacher schriftlicher Anfrage uns ihre Zentralabituraufgaben und die dazugehörigen Lehrerhandreichungen und Erwartungshorizonte mit mehr als fadenscheinigen Ausreden nicht zur Verfügung stellen. Der Grund ist offensichtlich: Man weiß anscheinend selbst, dass derartige Vergleiche die entsprechenden Ministerien nicht gerade mit Ruhm auszeichnen würden.

Hans Peter Kleins

Wie viele Zentralabituraufgaben welcher Länder haben Sie denn bisher analysiert und was ist dabei heraus gekommen?
Wir werden in Kürze ausführlich unsere Ergebnisse vorstellen. Bisher haben wir im Fach Biologie weit über fünfzig Zentralabiturarbeiten aus fünf Bundesländern sowohl im Längs- als auch im Querschnitt auf ihr fachliches Niveau hin untersucht. Außerdem gehe ich in meinem Buch ausführlich auf Abituraufgaben ein, die teilweise realsatirischen Charakter besitzen. Beispielsweise eine Aufgabe zum Zustand eines Baches, indem die Schüler anhand von ihnen überlassenen Daten die Gewässergüteklasse berechnen und bewerten sollen und dann sicherlich völlig perplex feststellen, dass in der ihnen zur Verfügung gestellten Grafik bereits alles berechnet und ausgefüllt ist. Das Ergebnis ist nicht verwunderlich: je fachlich anspruchsloser die Zentralabiturarbeiten, desto höher die Abiturientenquote.

Gibt es denn auch noch Länder mit fachlich anspruchsvollen Zentralabituraufgaben?
Ja die gibt es. Überraschenderweise gehören dazu einige der neuen Bundesländer. In Mecklenburg-Vorpommern können Schüler mit Lesekompetenz keinen Blumentopf gewinnen. Entweder sie wissen, wie beispielsweise eine Zelle aufgebaut ist und können eine eigenständige Zeichnung mit allen Zellbestandteilen erstellen oder sie müssen passen. Entweder sie wissen, was Gel-Elektrophorese ist – wegen des aktuellen Bezuges zu den laufenden Tatorten am Sonntagabend eine Art Lieblingsthema kompetenzorientierter Fragestellung – oder sie müssen zur nächsten Aufgabe übergehen. In Nordrhein-Westfalen und nicht nur dort wird den Schülern in ähnlichen Aufgabenstellungen erst einmal ausführlich erklärt, was unter Gel-Elektrophorese denn überhaupt zu verstehen ist. Wer also schon mal einen Tatort gesehen hat und über Lesekompetenz verfügt, muss für die Beantwortung derartiger Fragen nicht zwingend am Biologieunterricht teilgenommen haben.

Das Ganze ist schwer zu verstehen. Wir haben doch seit 2004 Bildungsstandards. Wie kann es sein, dass die anscheinend von einigen Bundesländern komplett unterlaufen werden?
Die Bildungsstandards sind verfasst in Form kompetenzorientierter Output-Formulierungen und einen Input in Form vorgegebener verbindlicher Fachinhalte gibt es nicht mehr. Die erstellt jedes Bundesland für sein Zentralabitur selbst. In Mecklenburg-Vorpommern werden beispielsweise sechs Teilgebiete der Biologie geprüft: Zellbiologie, Stoffwechselbiologie, Genetik, Evolution, Ökologie, Neurobiologie, in Bremen sind das gerade mal noch die zwei Gebiete Ökologie und Genetik.

Da muss man eigentlich gar keine Abiturvergleiche mehr anstellen. Der Unterschied ist für jeden von vornherein offensichtlich. Nicht nur in Nordrhein-Westfalen sind die für das grundlegende Verständnis der Biologie wichtigsten Teilgebiete der Zell- und Stoffwechselbiologie im Zentralabitur strengstens verboten. Klar, ohne chemische Kenntnisse muss man bei solchen Aufgaben passen und dies steht natürlich den angestrebten hohen Abiturientenquoten entgegen.

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