Bildungspolitik Akademisierung gefährdet duale Berufsbildung

Bildungsphilosoph und Ex-Staatsminister Nida-Rümelin befürchtet, dass der Anstieg der Studentenzahlen die duale Berufsbildung beschädigt, und fordert eine offene Debatte über Grundsatzfragen.

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Der ehemalige Kulturstaatsminister Julian Nida-Rümelin (SPD) Quelle: Presse

Sie fordern, den "Akademisierungswahn", also den Anstieg der Studierendenquote und die Ansiedlung von immer mehr Ausbildungsgängen an den Hochschulen, zu stoppen, warum?

Julian Nida-Rümelin: Wir sollten nach den besonderen Stärken des traditionellen deutschen Bildungssystems fragen. Zu diesen Stärken gehört meiner Ansicht nach das System der dualen Ausbildung in Unternehmen und staatlichen Berufsschulen. Es ist der Grund für die niedrige Jugendarbeitslosigkeit in Deutschland. Großbritannien hat die doppelte Akademikerquote und die doppelte Jugendarbeitslosigkeit. Das duale System spielt auch integrationspolitisch eine sehr wichtige Rolle. Die Vorstellung, dass die Kinder und Enkel von Einwanderern, die keine Bildungstradition haben, alle studieren werden, ist illusorisch. Das wirklich attraktive Integrationsangebot ist die Berufsbildung. Bisher hat dieses System die weit überwiegende Mehrheit der jungen Menschen aufgenommen. Erst seit einigen Jahren kippt dieses Verhältnis. Wir haben jetzt fast einen Gleichstand zwischen Studierenden und Auszubildenden. Der Mehrheit der Bevölkerung ist noch gar nicht klar, wie der Anteil der Studierenden nach oben geschnellt ist. Wenn sich dieser Trend fortsetzt, wracken wir das duale System ab.

Für die Bildungsökonomen von der OECD, die weiter eine höhere Akademisierung fordern, scheint das keine Rolle zu spielen.

Zur Person

Die OECD wirft Deutschland einerseits vor, wir lägen bei der Akademikerquote zusammen mit der Schweiz und Österreich zurück, und in anderen Studien stellt sie fest, dass wir eine besonders niedrige Jugendarbeitslosigkeit haben – dank des dualen Systems. Aber die OECD stellt zwischen diesen beiden zutreffenden Beobachtungen keinen Zusammenhang her: Wir haben deswegen weniger Akademiker, weil wir dieses attraktive Angebot der Berufsbildung haben. Aber seit etwa 15 Jahren vermitteln wir jungen Menschen den Eindruck, dass jeder, der irgendwie kann, studieren sollte. Die Bildungsberichte beklagen, dass es Studienberechtigte gibt, die nicht studieren. Eine gefährliche Botschaft. Jugendliche, die sich für einen Ausbildungsberuf entscheiden, sollten das nicht deswegen tun, weil ihnen anderes nicht offensteht, sondern weil sie zu der Erkenntnis gekommen sind, dass dieser Weg der für sie beste ist. Die staatlichen Bildungsangebote sollten die Jugendlichen dabei unterstützen, den besten Bildungsweg zu finden und kein rats‘ race veranstalten, bei dem gezählt wird, wie viele durchkommen. Wir produzieren auf diese Weise zu viele Bildungsverlierer. Selektion ist nicht die Aufgabe humaner Bildung, wohl aber Differenzierung.

Warum drängen gerade in den letzten Jahren immer mehr junge Menschen an die Universitäten.  

Das ist der Signalling Effect. Es geht darum zu signalisieren: Ich gehöre zu den Besten, die sich mit bestimmten Zertifikaten vor den anderen auszeichnen. Die Folge könnte aber sein, dass keiner sich mehr um die eigentlichen Kompetenzen bemüht. Dabei geht es um eine fundamentale Frage des Bildungsideals. Aber auch darum, wie wir die Gesellschaft der Zukunft sehen. Wollen wir an der Stärke des Industriestandorts Deutschland festhalten? Mit Automobilindustrie, Elektrotechnik, Maschinenbau, Chemie. Ich prophezeie, dass es damit vorbei ist, wenn nur 25 Prozent eines Jahrgangs ins duale Ausbildungssystem gehen.

Dieser Sonderweg Deutschlands – keine De-Industrialisierung, keine Dominanz des Finanzsektors – ist nicht durchzuhalten, wenn sich diese Amerikanisierung und Akademisierung der Ausbildung durchsetzt.

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