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Bildungspolitik Die Abiturientenzahlen steigen

Die Bundesregierung verklärt im Kinder- und Jugendbericht den Anstieg der Abiturientenzahlen als Erfolgsmeldung. Über den wahren Bildungsstand der jungen Menschen informiert man sich besser andernorts.

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Diese vorgebliche Erfolgsmeldung ist bezeichnend für den großen Selbstbetrug der gegenwärtigen Bildungspolitik. Quelle: dpa

"Das schulische und berufliche Bildungsniveau in Deutschland ist in den vergangenen Jahrzehnten deutlich gestiegen". So verkündet die Bundesregierung, genauer das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend heute zur Vorstellung des "14. Kinder- und Jugendberichts".

Diese vorgebliche Erfolgsmeldung ist bezeichnend für den großen Selbstbetrug der gegenwärtigen Bildungspolitik. Hinter der Behauptung eines höheren Bildungsniveaus steht als einziges Argument die Statistik: Die Zahl der Abiturienten und ihr Anteil unter allen Schülern ist gestiegen. So verfügten 36 Prozent der 15- (!) bis 25-Jährigen und 45 Prozent der 25- bis 35-Jährigen ohne ausländische Wurzeln über die Hochschulreife, in den gleichen Alterskohorten mit Migrationshintergrund sind es 29 und 37 Prozent.

Diese Zahlen werden als Indikator gesehen für das "Bildungsniveau". Sie sind exakt, eindeutig und damit scheinbar objektiv. Die Zahl der Abiturienten oder anderer Bildungsabschlüsse als Ausweis des Erfolgs von Bildungsbemühungen zu nutzen, ist für Kultusministerien und Bildungspolitiker daher eine Verlockung, der sie anscheinend kaum widerstehen können. Nur sagen sie eben nichts aus über das tatsächliche Bildungsniveau, sondern nur über die formalen Bildungsabschlüsse.

Und über die Kriterien nach denen Bildungsabschlüsse an Schüler vergeben werden entscheiden letztlich dieselben Instanzen, die die Zahl dieser Bildungsabschlüsse zum Erfolgsindikator ihrer eigenen Arbeit machen: Bildungspolitiker, Kultusministerien, Schulbehörden und nicht zuletzt die Schulen selbst. Wer die Bedingungen seines eigenen Erfolgs festlegen kann, der muss schon ein halber Engel sein, wenn er sich dadurch nicht korrumpieren lässt. Die Methoden dieser Korruption sind die aktive Aufweichung der Benotungsstandards an den Schulen und ein immer unverhohlener Druck auf Lehrer, bloß keinen Schüler durchfallen zu lassen.

Wo die Schulen am besten sind
Schülerinnen schreiben am 28.02.2012 in einem Gymnasium in Frankfurt am Main ein Diktat Quelle: dpa
Schülerinnen und Schüler der Klassen drei und vier der Grundschule Langenfeld Quelle: dpa
SaarlandStärken: Im Saarland machen 51,9 Prozent das Abitur. Das ist über Bundesdurchschnitt und befördert das Land damit in die Spitzengruppe im Ländervergleich. Auch in puncto Integration ist das Saarland weit vorne: Nur 4,3 Prozent aller Schüler sind vom Regelschulsystem ausgeschlossen und werden in speziellen Förderschulen unterrichtet. Schwächen: Wirkliche Schwächen haben die Schulen beziehungsweise das Bildungssystem im Saarland laut dem Chancenspiegel nicht. In den einzelnen Bereichen der Kategorien Durchlässigkeit und Kompetenzförderung bewegt sich das Bundesland immer im Mittelfeld. So hat ein Kind auf einer sozial starken Familie eine dreimal höhere Chance, aufs Gymnasium zu gehen als ein Kind aus einer schwächer gestellten Familie. Das ist unschön, aber immer noch überdurchschnittlich gut. 15,9 Prozent aller Schüler in der Primar- und Sekundarstufe 1 besuchen eine Ganztagsschule (Bundesdurchschnitt: 26,9 Prozent). Ländervergleich: Untere Gruppe. Auch das Verhältnis 1:3,3 beim Wachsel der Schulform (pro Schüler, der von der Real- oder Hauptschule "aufsteigt", wechseln 3,3 Schüler vom Gymnasium auf die Realschule beziehungsweise von Real- zu Hauptschule) liegt noch unterhalb des Bundesdurchschnitts von 1:4,3. Auch im Lesen sind saarländische Schüler aud den vierten und neunten Klassen mittelmäßig. huGO-BildID: 25450255 ARCHIV - Schüler und Schülerinnen schreiben am 28.02.2012 in einem Gymnasium in Frankfurt am Main ein Diktat. Zu den Ergebnissen der Koalitionsrunde vom Wochenende gehört das Ziel, noch in dieser Wahlperiode eine Grundgesetzänderung zu erreichen, die das Kooperationsverbot von Bund und Ländern in der Bildungspolitik aufhebt. Foto: Frank Rumpenhorst dpa +++(c) dpa - Bildfunk+++ Quelle: dpa
Eine behinderte Schülerin sitzt am 01.11.2011 im Gebäude einer Integrierten Gesamtschule Quelle: dpa
Constanze Angermann steht vor dem Finale des Schreibkampfes "Frankfurt schreibt! - Der große Diktatwettbewerb" vor einer Tafel Quelle: dpa
 Ein Schulkind bearbeitet Schulaufgaben Quelle: dpa
Malstunde in der deutsch-chinesischen Kita im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg Quelle: dpa

Steigende Abiturientenzahlen sind politisch produzierbar. Wie das geht und welche realen Folgen es für die tatsächlichen Entwicklung des Bildungsniveaus heutiger Schüler hat, erfährt man nicht aus offiziellen Berichten und statistischen Kompendien, sondern aus Erzählungen von meist frisch pensionierten oder anonym sich äußernden Lehrern. Auf unseren Artikel über die "Inflation des Abiturs" meldeten sich zahlreiche Lehrer, die die von oben gewollte Entwertung der Bildungsabschlüsse bestätigten. Einer von ihnen schrieb einen ausführlichen Beitrag für WiWo-Online. Gestern veröffentlichte die FAZ einen Artikel eines bayrischen Gymnasiallehrers über die "Nivellierung" und "Realschulifizierung" des Gymnasiums.

Der Kinder- und Jugendbericht benennt Bildung als einen zentralen Punkt für faire Chancen von Kindern und Jugendlichen. Und die Bundesregierung stimmt dem natürlich zu - wie jeder vernünftige Mensch. Beim Ziel, die Bildungsmöglichkeiten für Kinder und junge Menschen zu verbessern, sind sich alle immer einig. "Der Abbau von sozialer Ungleichheit bleibt ... eine zentrale Aufgabe der Institutionen der Bildung, Betreuung und Erziehung", heißt es in der Stellungnahme der Bundesregierung zu dem Expertenbericht. Dieses Ziel, so hehr es auch klingen mag, ist durchaus problematisch. Denn jedes Bildungssystem muss notwendigerweise auch die Ungleichheiten der Begabungen und Motivationen der jungen Menschen, die es durchlaufen zum Vorschein bringen. Die gegenwärtig dominante Schulpolitik meint das Problem lösen zu können, indem sie auf "längeres gemeinsames Lernen", also auf Gemeinschaftsschulen setzt und die ohnehin nicht mehr besonders hohen Hürden auf dem Weg zum Abitur herabsetzt. Wenn alle Abitur haben und studieren, gibt es weniger soziale Ungleichheit, so die Hoffnung.

Eine irrige Hoffnung. Wenn fast alle ein Abitur haben, dann sagt es fast nichts mehr aus über das tatsächliche Bildungsniveau der Abiturienten. Gerade ein gleichmacherisches Schulsystem, in dem die realen Leistungsunterschiede und Begabungen der Schüler nivelliert werden, führt dazu, dass andere außerschulische Kriterien entscheidender werden für den Zugang zu Karrierechancen. Bestenfalls entscheiden dann die aufnehmenden Hochschulen und die Arbeitgeber. Vermutlich werden aber auch teure Privatschulen und andere käufliche Distinktionsmöglichkeiten an Bedeutung gewinnen.

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