Bildungspolitik Akademisierung gefährdet duale Berufsbildung

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Parteien vernachlässigen ihr Profil

Wird die Grundwertekommission der SPD, der Sie gegenwärtig vorsitzen, innerhalb der Partei angemessen wahrgenommen?

Vor allem nach der Wahl 2009 hat sie eine Rolle gespielt. Damals ging es darum, eine neue programmatische Substanz zu schaffen.

Nach Wahlniederlagen schärfen die Parteien ihr Profil.

Ja. Wenn sie an der Macht sind, vernachlässigen Parteien ihre Programme. Das erlebt die CDU derzeit in extremer Weise. Merkel entkernt ihre Partei völlig, funktioniert sie zum reinen Kanzlerwahlverein um. Innerparteiliche Debatten finden da überhaupt nicht mehr statt. In der SPD war das unter Schröders Kanzlerschaft nicht so extrem. Da wurde auf Parteitagen noch Kontroversen ausgetragen.

Muss man die Verflachung nicht auch den Intellektuellen vorwerfen, die sich aus der praktischen Politik mehr oder weniger zurückgezogen haben?

Schauen wir auf Italien. Bevor Berlusconi durch seine Fernsehsender und seine Art Politik zu betreiben, die Öffentlichkeit entpolitisiert hat, war es ganz normal, dass in der  Zeitung „la Repubblica“ der christdemokratische Ministerpräsident Giulio Andreotti auf einer ganzen Seite mit Pier Paolo Pasolini, dem schwulen, kommunistischen Autor, debattierte. Das ist heute in Deutschland und in Italien undenkbar. Ein Verlust. Das liegt auch an den Intellektuellen und Geisteswissenschaftlern, die sich eine Attitüde des Igittigitt zugelegt haben. Leute wie Ralf Dahrendorf sind selten geworden. Das ist in den USA und Frankreich viel besser. In den USA ist der Wechsel zwischen Management, Wissenschaft und Politik ziemlich selbstverständlich. Grenzgänger tun allen gesellschaftlichen Bereichen gut. Aber in Deutschland bekommt man Probleme, wenn man sich aus seinem Milieu entfernt.

Sie sprechen aus Erfahrung?

Ich habe mich nach dem selbstgewählten Ende als Kulturpolitiker schnell wieder wissenschaftlich etablieren können, mit Rufen im In- und Ausland, aber die Abstoßungsreaktionen waren auch in der Wissenschaft gelegentlich zu spüren

Das Bedürfnis der Politik nach wissenschaftlicher Beratung ist ja nicht geringer geworden. Für Gutachten und Studien geben die Bundesministerien viel Geld aus. Aber Geisteswissenschaftler und Philosophen scheinen da nicht gefragt.

Die Ökonomen und Juristen dominieren. Ihnen ist gelungen, das Denken in der Politik stark zu prägen. Die Geistes- und Sozialwissenschaften dagegen haben einen sehr schweren Stand. Wenn ein Abgeordneter eine Rede mit geisteswissenschaftlicher Terminologie halten würde, wäre das sicher ein Flop. Juristisches und ökonomisches Vokabular dagegen funktioniert wunderbar. Naturwissenschaften spielen nur eine instrumentelle Rolle. Kilowatt und Kilowattstunden werden da schon mal schnell verwechselt.

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