
Ist das deutsche Bildungssystem ungerecht?
Steffen Schindler: Der Gerechtigkeitsbegriff ist sehr politisch. Da will ich kein Urteil fällen. Als Sozialwissenschaftler kann ich aber sagen, dass es große Ungleichheiten in unserem Bildungssystem gibt. Verschiedene soziale Gruppen sind in verschiedenen Bildungsgängen stark unter- oder überrepräsentiert.
Zur Person
Steffen Schindler ist Juniorprofessor für Soziologie mit dem Schwerpunkt Bildung und Arbeit im Lebensverlauf an der Universität Bamberg
Anders gefragt: Sind für Bildungsbiografien in Deutschland andere Kriterien als Leistung ausschlaggebend?
Ja. Ob man das nun ungerecht nennen will oder nicht. Jedenfalls hängt der Bildungserfolg nicht nur von Leistungen ab, die Schüler vollbringen, sondern auch von bestimmten Entscheidungen. Kinder aus privilegierten und unterprivilegierten Elternhäusern beziehungsweise die Eltern entscheiden sich bei vergleichbaren Leistungen oft sehr verschieden, wenn es um den Besuch einer weiterführenden Schule oder das Studium an einer Hochschule geht. Diese Entscheidungen sind ein wesentlicher Grund für die großen Ungleichheiten. Das haben wir eindeutig so beobachten können. Und zwar auf allen Stufen des Bildungssystems.
In Pressemeldungen heißt es oft, die „Chance“ von Arbeiterkindern auf ein Studium sei gering. Doch de facto sind die Zugangshürden zum Gymnasium längst beseitigt, weil die Eltern in den meisten Bundesländern völlig frei entscheiden können. Kann man da überhaupt noch von Diskriminierung sprechen?
Nein. Niemand hindert ein begabtes Kind aus unterprivilegiertem Elternhaus daran, an ein Gymnasium zu gehen. Auch hier spielen wieder Bildungsentscheidungen eine wichtige Rolle. Auch dass viele Kinder, obwohl sie die Hochschulreife erworben haben, nicht studieren, liegt vermutlich daran, dass sie es nie angestrebt haben. Sie streben häufig eher in Richtung Berufsausbildung. Und für die braucht man heute sehr oft de facto das Abitur, während vor ein paar Jahrzehnten noch Haupt- oder Realschulabschluss reichten. Der Großteil dieser Kinder erwirbt die Hochschulreife auch nicht am Gymnasium sondern über ein Berufskolleg oder einen anderen Bildungsweg. Für viele Arbeiterkinder liegt es also nahe, das Abitur oder die Fachhochschulreife zu erwerben, ohne danach zu studieren.
Eltern und Kinder sind also eher auf die Verteidigung des Erreichten fixiert.
Ja, man nimmt an, dass es Schulabsolventen meist darum geht, den Status der Eltern zu reproduzieren. Zu vermeiden sozial abzufallen, ist wichtiger als der soziale Aufstieg. Das heißt für Arbeiterkinder: Sie müssen nicht unbedingt aufs Gymnasium. Für Kinder von Akademikern heißt es: unbedingt aufs Gymnasium. Die Entscheidungen sind also frei, aber die Anreizstrukturen sind sozial verschieden.





Und was könnte die Politik tun, wenn sie die sozialen Ungleichheiten der Bildungswege minimieren wollte?
Wenn die Bildungspolitik möchte, dass mehr Kinder aus unterprivilegierten Elternhäusern an die Hochschulen kommen, dann ist es ratsam, nicht erst beim Abitur anzusetzen, sondern viel früher. Die Einstellung der Kinder zum Hochschulstudium ändert man nicht nach dem Abitur. Die Frage ist dann: Welche Anreize und welche Hürden setzt man? Die Forschung hat zum Beispiel gezeigt, dass es gerade nicht zu mehr Gleichheit, sondern tendenziell zu mehr Bildungsungleichheit führt, wenn leistungsbezogene Hürden – etwa verbindliche Lehrerempfehlungen für das Gymnasium – völlig abgeschafft werden. Wenn man den Eltern die Entscheidung völlig freigibt, heißt das immer, dass die bessergestellten Eltern Wege suchen und finden, den Status ihrer Kinder zu erhalten.