G9 kommt zurück Das Ende des achtjährigen Gymnasiums

Vor wenigen Jahren noch sahen Bildungspolitiker die Verkürzung der Schulzeit als Heilsweg. Doch Eltern, Schüler und Lehrer sehen in "G8" einen Holzweg. In weiten Teilen Deutschlands kehrt das 13. Schuljahr nun zurück. 

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Quelle: dpa Picture-Alliance

G8 galt mal als eine entscheidende Reform des deutschen Schulsystems. Die Verkürzung der Schulzeit an deutsche Gymnasien um ein Jahr auf nur acht war in den ersten Jahren des Jahrtausends die Hauptforderung der Bildungsökonomen in der OECD, der Bertelsmann-Stiftung und anderen Institutionen. Das Dauer-Lamento hatte Erfolg: Man müsse das deutsche Bildungssystem endlich an „europäischen Standard“ anpassen, redete zum Beispiel der damalige bayrische Ministerpräsident den Bildungsökonomen nach. Das entfallene Schuljahr, da waren die Bildungsreformatoren sich sicher, würde durch „Entrümpeln“ (O-Ton von Berlins Ex-Regierungschef Klaus Wowereit) der alten Lehrpläne kein Problem. Bis Ende der 2000er-Jahre hatten schließlich alle Bundesländer außer Rheinland-Pfalz das verkürzte Gymnasium mehr oder weniger geschlossen eingeführt.

Diese Reform dürfte als größter Holzweg in die Geschichte des deutschen Bildungswesens eingehen. Die Umkehr ist mittlerweile nach nicht einmal zehn Jahren in vollem Gange. Das verkürzte Gymnasium könnte in absehbarer Zeit zu einem historischen Intermezzo geworden sein – außer in den neuen Bundesländern, wo es aus historischen Gründen ohnehin seit Kriegsende kein 9-jähriges Gymnasium mehr gab.

„Pädagogische Gründe für G8 gab es nie“, sagt Cord Santelmann vom baden-württembergischen Philologenverband, der Interessenvertretung der Gymnasiallehrer. „Es hieß, die deutschen Gymnasiasten seien im internationalen Vergleich zu alt. Im Grunde ging es darum, sie rascher einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung zuzuführen und Lehrerstellen einzusparen.“

Josef Kraus, seit 1987 Präsident des Lehrerverbandes, wird noch deutlicher: Die Bildungspolitiker müssten endlich einräumen, „dass das G8 bildungspolitisch und entwicklungspsychologisch Schwachsinn war“.

Die Kritiker der G8-Reform werden mittlerweile immer lauter. Schließlich kann man mittlerweile erste Erfahrungen mit Absolventen vorweisen. Und die sind schlecht. In Schleswig-Holstein begannen in diesem Herbst die ersten G8-Abiturienten ihr Studium – und die Dozenten klagen über Bildungsmängel und fehlende Reife. Die Vizepräsidentin der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Ilka Parchmann, sagte gegenüber dem Norddeutschen Rundfunk, sie habe den Eindruck, dass die Studierenden weniger sicher sind, was sie überhaupt wollen. Auch der Präsident der Europa-Universität Flensburg, Werner Reinhart, hält G9 für besser.

Entscheidend dafür, dass die G8-Reform nicht akzeptiert wurde, ist der anhaltende und sich verstärkende Widerstand der Eltern, Lehrer und Schüler gegen die Verkürzung.  Mittlerweile haben aber auch viele der eifrigen Unterstützer der verkürzten Schulzeit begriffen, dass gegen eine übergroße Mehrheit des Schüler-, Eltern- und Lehrerwillens keine Schulpolitik zu machen ist. Eine Online Umfrage des Bildungsforschers Rainer Dollase im Auftrag der Landeselternschaft kam zum Ergebnis, dass 88 Prozent der Eltern (93 Prozent der Grundschul-Eltern!), ebenfalls 88 Prozent der Gymnasiallehrer (70 Prozent der Schulleiter) und 79 Prozent der Schüler an G8-Gymnasien in NRW das Turbo-Abi nach acht Jahren ablehnen.  

Der Dauerprotest von Elterninitiativen wie „G-ib-8“ in Nordthein-Westfalen hat sich letztlich als stärker erwiesen als die vorgebliche Expertise der Bildungsökonomen von OECD und Bertelsmann-Stiftung. Nachdem Niedersachsen schon 2014 als erstes Land komplett zu G9 zurückgekehrt ist, Rheinland-Pfalz ohnehin als einziges Land bei G9 geblieben war und Hessen und Schleswig-Holstein den Gymnasien Wahlfreiheit gewährt haben, scheint nun im größten Bundesland Nordrhein-Westfalen das allmähliche Ende des achtjährigen Gymnasiums bevorzustehen. 

Lehrerverband hält Wahlfreiheit für skandalös

Bei einem „runden Tisch“ mit Elternvertretern am 24. Oktober signalisierte NRW-Schulministerin Sylvia Löhrmann (Grüne) ein Einlenken – wenn auch nicht mehr in dieser Legislatur: „Das muss gründlich vorbereitet sein. Es darf keinen Schnellschuss geben.“

Der Streit in NRW dreht sich wie in anderen Ländern nicht mehr um die Rückkehr selbst. Es geht nur noch um die Frage, ob Schulen oder Eltern Wahlfreiheit haben sollen – oder ob die Landesregierung eine „Leitentscheidung“ treffen soll. Löhrmann will letzteres. Die nordrhein-westfälischen Oppositionsparteien FDP und CDU fordern, jede Schule solle selbst entscheiden.

Striche zählen und Werte ablesen

Angesichts der übergroßen Mehrheit von G9-Befürwortern unter Eltern und Lehrern dürfte die freie Entscheidung aber vermutlich dazu führen, dass G8-Schulen bald zur Ausnahme werden. In Hessen, wo die Gymnasien die Wahl haben, gibt es im Schuljahr 2016/17: 13 Gymnasien mit einem G8-Angebot, 81 Gymnasien mit einem G9-Angebot, und 16 Gymnasien mit einem Parallelangebot G8/G9 ab der Jahrgangsstufe 7.

Lehrerverbandspräsident Josef Kraus ist mit der Wahlfreiheit der Schulen nicht glücklich. Löhrmanns Einlenken in Nordrhein-Westfalen sei „ein winzig kleiner Schritt in die richtige Richtung, mehr nicht“, urteilt der Lehrerverbandspräsident.

Die Einführung einer Wahlfreiheit für die Schulen hält er für „schier skandalös“, weil sich die Politik in einer so wichtigen Strukturfrage nicht aus der Verantwortung stehlen dürfe. Der politische Konflikt zwischen G8- und G9-Befürwortern werde sich an die Basis verlagern. „Da die allerwenigsten Gymnasien groß genug sind, um beiden anbieten zu können, werden Wahl-Verlierer zurückbleiben“, befürchtet Kraus. „Das Ergebnis könnte auch eine Atomisierung der Schullandschaft mit allen Folgen für eine eingeschränkte Mobilität der Familien sein.“

Kraus‘ Forderung: „Grundständiges G9 bei G8-Option für einzelne Schüler oder Schülergruppen! Nicht umgekehrt: Grundständiges G8 bei G9-Option. Letzteres ist gescheitert.“ Mit der Rückabwicklung von G8 müssten auch die zuvor ausgedünnten Lehrpläne wieder angereichert werden. Der Umfang des Unterrichts müsse insgesamt wieder steigen, um die Tendenz zum „Gymnasium light“ zu brechen.

In Kraus Heimatland Bayern, wo er selbst ein Gymnasium leitet, hat Kultusminister Ludwig Spaenle (CSU) vor wenigen Tagen im Wissenschaftsausschuss des Landtages einer schnellen kompletten Rückkehr zum 13. Schuljahr eine Abfuhr erteilt. Aber nur vorerst und alles andere als konsequent. Bayrische Gymnasien dürfen den Antrag stellen, zum Schuljahr 2018/2019 zu G9 zurückzukehren. Die Erlaubnis erteilt Spaenles Ministerium.

Der Minister selbst gilt im Gegensatz zu seiner nordrhein-westfälischen Ministerkollegin als Sympathisant der Rückkehr. Doch in seiner CSU-Landtagsfraktion gibt es, so hört man, noch Widerstand. Max Schmidt, der Vorsitzende des Bayerischen Philologenverbands, äußerte nach der Ausschusssitzung seine Überzeugung, dass früher oder später alle bayrischen Gymnasien wieder neun Schuljahre anbieten werden.

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