
WirtschaftsWoche: Als Schulleiter sind Sie ja eigentlich für Schüler zuständig. Nun haben Sie ein Buch über Väter und Mütter geschrieben. Was sind Helikopter-Eltern?
Josef Kraus: Im Kontrast zu den Eltern, die ihre Kinder verwahrlosen lassen, erlebe ich immer öfter Eltern, die sich um alles kümmern. Sie wollen die Kinder total kontrollieren und programmieren. Sie organisieren Nachhilfe über Nachhilfe und sitzen bei jeder Hausaufgabe neben dem Kind, um zu kontrollieren, ob es auch alle Aufgaben zur Prozentrechnung richtig löst. Wenn etwas schiefgeht, machen sie sofort die Schule verantwortlich. Sie beschweren sich, wenn die Tochter in die Klasse 7b kommt und nicht in die 7d, wo die Freundin ist. Eltern, die sich über das Gewicht des Ranzens beschweren oder über die sieben Vokabeln, die ihr Kind lernen sollte. Eltern, die bei einer Note 3 eine Überprüfung beantragen und mit anwaltlichen Schreiben kommen.

Wie reagieren die Lehrer?
Sie werden auf die Dauer mürbe. Gerade schwache Lehrer neigen dazu, um des lieben Friedens willen bessere Noten zu vergeben. Mürbe werden leider auch viele Schulleiter. Manch einer überlegt sich vielleicht auch angesichts des Rückgangs der Schülerzahlen, dass seine Schule im Wettbewerb besser dasteht, wenn sie als großzügig gilt.
Haben diese Helikopter-Eltern nicht einfach die Botschaft angenommen, die in der Bildungsforschung als Allheilmittel gepredigt wird, nämlich individuelle Förderung für jedes Kind?
Ich verstehe ja, dass sich Eltern um das Wohlergehen ihrer Kinder sorgen. Natürlich sind mir Eltern, die sich kümmern, lieber als Eltern, denen alles egal ist. Aber Erziehung bedeutet auch, Selbständigkeit und Eigenverantwortung zu fördern. Loszulassen, wenn es sinnvoll ist, und den Kindern etwas Eigenes zuzutrauen. Vom Schulweg bis zu den Hausaufgaben. Wenn ein Kind keine Hausaufgaben gemacht hat, wird der Lehrer schon richtig handeln. Dann sollen sich die Eltern raushalten. Ein Mittelweg zwischen Lenken und Gelassenheit ist vernünftig.
Die überhitzte bildungspolitische Debatte, dieses Gequatsche von der OECD und der Bertelsmann-Stiftung - Deutschland brauche mehr Abiturienten und Studenten – hinterlässt natürlich Spuren bei den Eltern der Mittelschicht. Die Abstiegsangst greift um sich, obwohl es überhaupt keine volkswirtschaftlichen Belege dafür gibt. Und dann meinen manche, sie müssten ihr Kind fit machen für das globale Haifischbecken.
Neben dem Anspruch auf perfekte Ausbildung für den Arbeitsmarkt steht der allgegenwärtige Vorwurf, das deutsche Schulsystem sei sozial ungerecht. Kinder aus bildungsfernen Familien hätten schlechtere Chancen, heißt es oft.
Das ist ein statistisches Artefakt aus den PISA-Studien. PISA testet 15-Jährige und erstellt daraus einen Zusammenhang zwischen Gymnasialquote und sozialer Herkunft. Aber mit 15 Jahren ist die Schullaufbahn ja nicht abgeschlossen. Wir haben in Deutschland eine sehr große Durchlässigkeit zwischen den Schulformen und auch zum zweiten Bildungsweg. Selbst in Bayern, das als streng gilt, haben 43 Prozent der Studierberechtigten kein Gymnasium besucht. PISA erfasst das nicht. Das entscheidende Kriterium ist doch: Deutschland, Österreich und die Schweiz haben eine sehr geringe Jugendarbeitslosigkeit. Finnland, der PISA-Sieger, hat etwa die dreifache. Von Frankreich und den südeuropäischen Ländern ganz zu schweigen.
"Quotenmanipulation durch Absenken des Qualitätsanspruchs"
Der Philosoph und SPD-Politiker Julian Nida-Rümelin hat kürzlich auch mit Verweis auf den arbeitsmarktpolitischen Erfolg des traditionellen deutschen Bildungssystems ein Ende des "Akademisierungswahns", also der Steigerung der Abiturquoten, gefordert.
Und er hat dafür nicht nur in der SPD, sondern auch von der CDU-Bundesbildungsministerin Johanna Wanka scharfen Widerspruch erfahren. Die Politik ist von Quoten besoffen. Die kann man schön manipulieren durch Absenken des Qualitätsanspruchs. Ich unterscheide mittlerweile deutlich zwischen Studierberechtigung und tatsächlicher Studierbefähigung.
Hat an der Überhitzung der Bildungsdebatte, die Sie beklagen, nicht auch die deutsche Wirtschaft gehörigen Anteil?
Dieser verheerende Beschleunigungswahn im Bildungswesen kommt natürlich aus der Wirtschaft. Die Verkürzung der Schulzeit, also das G8-Abitur, war ein großer Fehler, der auf das Drängen von Wirtschaftsverbänden zurückgeht. In denen herrscht das Verwertungsdenken, während die Werteerziehung geringgeschätzt wird - Ethik, Religion, Kunst, Musik. Aber wenn ich dann mit dem einzelnen Unternehmenschef spreche, höre ich: Wir wollen nicht nur Leute mit Supernoten in Chemie, Physik und vielleicht Englisch, sondern gereifte Persönlichkeiten.
Der Spitze der organisierten Wirtschaft würde es guttun, mal ein paar bildungsphilosophische Texte zu lesen, zum Beispiel das Papier der Deutschen Bischofskonferenz und der Evangelischen Kirche in Deutschland von 2000: "Tempi - Bildung im Zeitalter der Beschleunigung". Darin wird gewarnt, das Bildungssystem einem neuen Totalitarismus zu unterwerfen, nämlich einem puren Funktionalismus. Natürlich ist auch die Wirtschaft Nutznießer von Muse und Muße. Und sie ist auch Nutznießer des "Prinzips Sabbat", wie es in dem Papier heißt.
Kommen wir zurück auf die Helikopter-Eltern. Sie schreiben in Ihrem Buch über die „typisch deutsche Angst“, bei der Erziehung etwas falsch zu machen. Und sie vermuten, dass diese auch ein "effektives Verhütungsmittel" sei.
Natürlich ist das eine steile These. Es gehört zum deutschen Nationalcharakter, sofern man davon sprechen kann, immer alles perfekt machen zu wollen. Dann sitzt man schnell einem Machbarkeitswahn auf, der aus dem amerikanischen Behaviorismus kommt und heute von einer seichten Hirnforschung bestärkt wird. Nach dem Motto: Alles ist programmierbar. Viele Eltern meinen, dass sie bei dieser Aufgabe mit einem einzigen Kind voll ausgelastet sind. Mehr Kinder glauben sie sich daher zeitlich und finanziell nicht leisten zu können.
Und dieses eine Kind muss dann perfekt werden.
Das muss ein Premium-Kind sein. Ein Portfolio, das man herzeigen kann.
Pseudoreligiöse Thesen von Hirnforscher Gerald Hüther





Rebelliert so ein Kind nicht gegen seine überbehütenden Eltern? Ist ihm das nicht peinlich?
Für die Kinder ist es natürlich sehr bequem, immer alle Probleme aus dem Weg geräumt zu bekommen. Manche, die sogenannten Boomerang Kids, kehren nach dem Studium sogar wieder ins Hotel Mama zurück. Aber ich beobachte auch, dass es vielen Kindern ab einem gewissen Alter peinlich ist, wenn Mama laufend in die Schule kommt. Ich habe schon einen Schüler erlebt, der zu mir kam und sagte: Herr Kraus, ich weiß dass mein Vater sich bei Ihnen beschwert hat, bitte nehmen Sie das nicht so ernst.
Werden aus den Kindern von Helikopter-Eltern selbst Helikopter-Eltern?
Grundsätzlich gibt es das Phänomen, dass sich Erziehungspraktiken über Generationen vererben. Die Erziehung, die man selbst genoss, hat oft Modellcharakter. Ich schätze, dass 60 oder 70 Prozent so erziehen, wie sie selbst erzogen wurden. Es wird viel davon abhängen, wie die Bildungsdebatte in den nächsten Jahren und Jahrzehnten abläuft. Wenn sie weiter von der OECD, den Bildungsökonomen und Hirnforschern geprägt bleibt, dann befürchte ich, dass das Phänomen Helikopter-Eltern noch zunehmen wird. Dann werden wir eine unmündige Generation bekommen, die das Risiko, also auch das Unternehmertum scheut. Ich glaube, dass der Rückgang des Wunsches nach wirtschaftlicher Selbständigkeit auch mit überbehütender Erziehung zu tun hat.
Stichwort Hirnforscher. Mit einigen gehen Sie in Ihrem Buch hart ins Gericht.
Das individuelle Gehirn ist so komplex, dass sich die simplen Antworten verbieten, die Gerald Hüther oder Manfred Spitzer verbreiten. Mich stört, wie Hüther mit seinen pseudoreligiösen Theorien herumgereicht wird, als ob er die Bildung neu erfunden hätte. Die wenigsten seiner Zuhörer wissen, dass er seine angeblichen Erkenntnisse mit Laborratten gewonnen hat. Die Hirnforschung ist weit, weit davon entfernt, Lehrern und Eltern sagen zu können: Ihr müsst diesen oder jenen Knopf drücken, dann kommt dieses oder jenes Ergebnis heraus. Gott sei Dank. Sonst bedeutete das ja, dass der Mensch total manipulierbar ist. Wenn sich Hirnforscher seriös mit Bildungsfragen befassen, kommen sie zum Ergebnis, dass bestimmte Erziehungsgrundsätze, die wir seit Jahrzehnten und Jahrhunderten kennen, nicht so falsch sind.
"Precht zeichnet ein Zerrbild der Schule"
Der Populärphilosoph Richard David Precht wirft in seinem aktuellen Buch dem Bildungssystem vor, die Kinder zu verraten.
Ähnlich wie Hüther zeichnet er ein Zerrbild der Schule. Was er als Lösung anbietet, sind die Ladenhüter einer längst entzauberten 68er-Pädagogik. Laissez-Faire-Pädagogik, Kuschelpädagogik, Spaßpädagogik, Erleichterungspädagogik, Gefälligkeitspädagogik.
Mit seiner Hauptforderung - Kompetenzen zu lehren statt Wissen zu pauken - ist Precht doch ganz im Mainstream der Bildungspolitik. Das "Lernen des Lernens" bestimmt mittlerweile die meisten Lehrpläne.
Ich halte das für einen Irrweg. Kompetenz gibt es nicht ohne Wissensbasis. Der Philosoph Konrad Paul Liessmann vergleicht dieses "Lernen des Lernens" mit dem Kochen ohne Zutaten. In manchen Lehrplänen für Geschichte kommen kaum noch historische Namen oder Jahreszahlen vor. Wie sollen junge Menschen mündig werden, wie sollen sie eine gesellschaftliche Debatte bestreiten, wenn sie sich erst Just-in-Time-Wissen bei Wikipedia runterladen müssen?
Zum Schluss noch eine Frage an den Vater Josef Kraus. Wie haben Sie reagiert, wenn ihr Sohn früher mit einer sehr schlechten Note nachhause kam?
Unser Sohn war kein Musterschüler, aber einer mit Reserven, die er dann im Studium mobilisiert hat. Wenn es mal nicht so gut lief, habe ich mich als Vater weitestgehend herausgehalten. In seinen ersten Jahren am Gymnasium war ich dort selbst Lehrer. Mein Sohn hat aufgeatmet, als ich dann Direktor an einer Nachbarschule wurde. Meine Frau und ich waren sicher keine Helikopter-Eltern, aber wir müssen aufpassen, dass wir keine Helikopter-Großeltern werden.