Knauß kontert

Die Schule der Geschichtslosen

Ferdinand Knauß Quelle: Frank Beer für WirtschaftsWoche
Ferdinand Knauß Reporter, Redakteur Politik WirtschaftsWoche Online Zur Kolumnen-Übersicht: Anders gesagt

Der Geschichtsunterricht soll ohne Daten und Chronologie auskommen. Das ist nicht nur fahrlässig, sondern gefährlich. Denn Wissen – nicht Kompetenz – ist die Basis von Freiheit und Wohlstand.

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Geschichtsunterricht: Neuer Lehrplan in Sachsen-Anhalt ohne Jahreszahlen. Quelle: dpa Picture-Alliance

„2084. Das Ende der Welt“ heißt einer der aktuell erfolgreichsten Romane. Das Buch des französisch schreibenden Algeriers Boualem Sansal hat in Frankreich den „Grand Prix du Roman“ erhalten und war in Deutschland sofort nach Erscheinen vergriffen. Man kann in diesem enormen Erfolg durchaus auch eines der vielen leisen oder weniger leisen Anzeichen dafür erkennen, dass es nicht nur in den Köpfen des von Sigmar Gabriel als solches bezeichneten „Packs“, sondern auch in denen des lesenden Teils der deutschen und europäischen Bevölkerung brodelt.

Denn das Buch ist hoch politisch. Es ist eine Dystopie, eine schreckliche Vision einer durchaus nicht völlig unrealistischen absehbaren Zukunft. Obwohl Sansal von „Yölah“ und nicht von Allah schreibt, ist auf jeder Seite klar, dass er uns einen Blick in ein durch und durch islamisiertes Land zur Mahnung vor Augen hält. Der Titel nimmt natürlich auf George Orwells berühmte Dystopie „1984“ Bezug. Auch der immer ungläubiger werdende Held Ati und seine Suche nach den mysteriösen „Ungläubigen“ erinnern an Winston Smith und seine „Gedankenverbrechen“ gegen die „innere Partei“.

Buchcover Boualem Sansal 2084 Das Ende der Welt Quelle: Merlin Verlag

Zu den Voraussetzungen der totalen Herrschaft in beiden Büchern gehört an erster Stelle die Geschichtslosigkeit. Eine der stärksten Szenen in „1984“ ist das Gespräch von Winston mit einem alten „Prol“. Er fragt ihn, wie das denn so war, vor der Machtübernahme der Partei. Doch der weiß nur Banalitäten zu erzählen. Die Geschichtsschreibung aus dem „Wahrheitsministerium“ verbreitet nur Bilder von dicken, bösen Kapitalisten mit Zylinderhut und erzählt immer wieder dieselben Geschichten (man würde das heute Narrativ nennen) von ruhmreichen Revolutionären.

Ähnlich geschichtslos ist „Abistan“, das Land der an Yölah und seinen Propheten „Abi“ Glaubenden und von der „gerechten Bruderschaft“ Beherrschten. An den Wänden hängen nicht nur Bilder von Abi, sondern auch diese Zahl 2084. Aber niemand weiß: Gibt es einen Zusammenhang mit dem „großen heiligen Krieg“? Bezieht sich das Jahr auf den Ausbruch oder das siegreiche Ende des Krieges? War es das Gründungsjahr der gerechten Bruderschaft? Oder war es das Geburtsjahr von Abi selbst? Oder das Jahr seiner Erleuchtung? Das einzige, was alle wissen, ist, dass Yölah ihm eine einzigartige Rolle gab. Alles andere – woher kommen wir? was ist unser Land? wer sind wir überhaupt? – ist egal.

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