Ökonomisierung der Bildung "Junge Menschen werden wie Maschinen behandelt"

Am Dienstag startet in Köln die Bildungsmesse didacta. Großes Thema ist die Digitalisierung an Schulen. Doch ist die nicht nur eine weitere Ökonomisierung der Bildung? Pädagoge Jochen Krautz warnt davor, dass Schulen zu "Fabriken von Humankapital" werden.

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Quelle: dpa

WirtschaftsWoche: Herr Krautz, Sie kritisieren die Ausrichtung des modernen Bildungssystems auf wirtschaftliche Bedürfnisse der Industrie und anderer Unternehmen. Warum?

Jochen Krautz: Ich bezweifle, dass es hier wirklich um wirtschaftliche Bedürfnisse der Unternehmen geht. Es geht vielmehr um die Ökonomisierung von Bildung. Das heißt dass, dass Bildung selbst einer ökonomischen Logik unterworfen wird.

Das bedeutet?

Junge Menschen werden wie Maschinen betrachtet, die ein Investitionsgut sind und deren Bildung Kapital abwerfen soll. Schulen sind dann Fabriken zur Herstellung solchen Humankapitals und Lehrer haben dies nach festgesetzten Standards zu produzieren. Das ist antihumanistisch und undemokratisch.

Zur Person

Aber soll die höhere Schul- und die akademische Bildung nicht gerade anwendungsorientiert sein und auf den Beruf vorbereiten?

Ich kritisiere die Ökonomisierung von Bildung, nicht aber, dass Bildung auch etwas zur Berufsfähigkeit von jungen Menschen beizutragen hat. Sonst geraten wir in den alten und falschen Dualismus von Persönlichkeitsbildung versus Berufsausbildung. Dann vermutet man bei einem Kunstpädagogen wie mir natürlich, dass der von einem weltfernen ästhetischen Elysium träumt, während das „harte Leben“ doch ganz etwas anderes fordere. Das ist Unsinn.

Was Schüler in der neunten Klasse können sollen

Wie kann man das Problem lösen?

Wilhelm von Humboldt hat hierzu eine immer noch überzeugende Lösung vorgelegt, dass nämlich allgemeine und berufliche Bildung schlicht auseinanderzuhalten seien und die allgemeine vor der spezifischen Bildung zu stehen habe. Und zwar gerade nicht als Privileg für wenige, sondern als Recht für alle: Bildung zu einer mündigen Persönlichkeit als Grundlage demokratischer Selbstbestimmung. Nur mit gebildeter Urteilskraft und am Gemeinwohl orientierter Verantwortlichkeit ist Demokratie möglich.

Warum wird die Ökonomisierung der Bildung in der Öffentlichkeit dann so vehement gefordert?

Man könnte meinen, das sei das Interesse „der Wirtschaft“. Denn tatsächlich haben die großen Wirtschaftsverbände die jetzige Entwicklung massiv propagiert und mit Lobbyarbeit unterstützt. Warum? In den entsprechenden Abteilungen der Wirtschaftsverbände sitzen eben Bildungsökonomen. Und die haben nicht nur keine Ahnung von Pädagogik, sondern denken in den unzulänglichen Kategorien neoliberaler Wirtschaftstheorie, die längst zum alleinigen Paradigma der Wirtschaftswissenschaft geworden ist.

In der Finanzkrise gab es einen kurzen Moment, in dem öffentlich wurde, dass diese neoliberale Monokultur des Denkens uns in das Desaster geführt hat. Es ist bei der Bildung nicht anders: Genau die ökonomistische Kurzsichtigkeit ist wesentlich mit Schuld am Bildungsdesaster. Kurz gesagt: Die Ökonomisierung von Bildung führt genau zu dem Bildungsverlust, den man nun selbst beklagt.

Wo sich der Mindestlohn für Praktikanten bezahlt macht
Ein Stempel mit dem Stempeltext Mindestlohn Quelle: dpa
Professionelle Programmierer Quelle: dpa
Energie-Branche Quelle: Fotolia
Praktika im Bereich Konsum- & Gebrauchsgüter Quelle: dpa/dpaweb
Praktika in der Chemiebranche Quelle: dpa
Baugewerbe & -industrie Quelle: Fotolia
Praktikanten im Bereich Transport und Logistik haben nach Einführung des Mindestlohns mehr bekommen Quelle: Fotolia

Aber nicht nur die Unternehmen, auch Parteien verlangen ständig nach einer Neuausrichtung des Bildungssystems...

Das ist in der Tat eine merkwürdige ideologische Konvergenz. Eine Art unheilige Allianz, die es sehr schwer macht, überhaupt noch pädagogischer Vernunft Gehör zu verschaffen. Gerade grüne Bildungspolitik gibt sich in einem romantisch-emphatischen  Sinn als kinderfreundlich aus und konstruiert ganz in der Tradition bestimmter Linien der Reformpädagogik einen Widerspruch zwischen Kind und Kultur: Wenn Schule Kinder in Klassengemeinschaften zusammenfasst und ihnen abverlangt, sich in die gemeinsame Kultur lernend hineinzufinden, gilt das als tendenziell autoritär und repressiv. Stattdessen redet man von „Selbstentfaltung“, als sei das Kind ein Pflänzchen, das sich in guter Umgebung von selbst entwickle. Entsprechend schafft man etwa in Baden-Württemberg oder NRW den Klassenunterricht ab, vereinzelt die Kinder an isolierten Arbeitsplätzen und nennt das „selbstgesteuertes Lernen“. Das ist schlicht gegen alle Erkenntnisse von Humanwissenschaften und Entwicklungspsychologie: Der Mensch lernt nur mit und von anderen. Diese Sozialnatur macht uns als Menschen gerade aus.

"In der Ausrichtung auf internationale Vorgaben liegt das Problem"

Beide Seiten gehen also von der totalen Formbarkeit des menschlichen Individuums aus und wollen „neuen Menschen“ erziehen: Die Politik will Entfaltung, die Wirtschaft angepasste Arbeiter.

Beide verstehen Lernen als Anpassung an die Umgebung. Beide vernachlässigen Bindung und Beziehung, vereinzeln die Schüler und bringen sie in verschärfte Konkurrenz zueinander. So eint beide Seiten ein Fortschrittsdenken, in dem jede Reform oder Innovation besser ist, als das Alte. Wer diese permanente Reform kritisiert, gilt als fortschrittsfeindlich und reaktionär und auf den wird auch vereint eingedroschen.

Und letztlich profitieren international operierende Unternehmen, die so aus einem großen Pool standardisiert ausgebildeter Arbeitsmigranten wählen können?

Ja, genau in dieser Ausrichtung auf internationale Vorgaben liegt das Problem. Im Bildungswesen ist das ganz konkret vor allem die OECD, die seit 50 Jahren ihre gleiche Propaganda verbreitet.

Die dualen Berufsausbildung gilt als Erfolgsmodell. Sie sorgt für eine geringe Jugendarbeitslosigkeit und Fachkräfte. Aber sie ist auch Schuld, dass Deutschland in jeder Statistik zum Land der befristeten Jobs wird.
von Kerstin Dämon

Die historische Bildungsforschung hat inzwischen sehr genau gezeigt, dass und wie dies strategisch geplant und umgesetzt wurde. Man hat ganz gezielt die nationale Souveränität unterlaufen und das Bildungswesen beeinflusst, das eigentlich in der Verantwortung der Bürger liegt.

Klingt reichlich undemokratisch.

Die OECD hat dazu schlicht kein Mandat, setzt aber massiv manipulative Mittel ein, um ihr ökonomistisches Konzept durchzusetzen. Dabei geht es von Beginn an - ganz offen deklariert – um die kulturelle Entwurzelung der Menschen, um sie bereit für den „ökonomischen Fortschritt“ zu machen. Anpassung ist also das Ziel, nicht Mündigkeit. So hat die OECD mit den PISA-Studien ihr Kompetenzkonzept eingeführt, nach dem nun alle Schulen unterrichten. Durchgesetzt wird das mit einem Überwachungssystem von Tests und Standards, ständig überprüft mithilfe sogenannter „empirischer Bildungsforschung“.

Können Sie diese PISA-Aufgaben lösen?

Welche Folgen hat das für die deutsche Wirtschaft?

Diese Entwicklung schadet dem Mittelstand, der hochqualifizierte Mitarbeiter benötigt. Beschädigt wird also das Kernstück der deutschen Wirtschaft, das sich auch einmal in einer dementsprechenden sozialen Verantwortung sah. Gerade die mit Penetranz vorgetragene und verdeckt durchgesetzte Forderung der OECD nach einer Akademikerquote von 50 Prozent, der eine so simple wie falsche theoretische Annahme zugrunde liegt, hat gravierende Folgen für den Mittelstand.

Ihr Lösungsvorschlag?

Meines Erachtens sollte sich die Wirtschaft am besten schlicht aus einem Feld heraushalten, von dem sie nichts versteht. Sie sollte darauf drängen, aus der genannten Internationalisierung auszusteigen, PISA schlicht abzuschaffen, an den Universitäten die Bologna-Reform zu reformieren, das System von Monitoring, Qualitätssicherung, Standardisierung und Tests, das aus den Managementlehren an die Bildungseinrichtungen importiert wurde, als untauglich zurückzuweisen usw.

Also schlicht: Man sollte als erstes einmal diejenigen, die etwas von der Sache verstehen, also Lehrer und Hochschullehrer, ihre Arbeit machen lassen und dafür sorgen, die Qualitätsverhinderungsmechanismen abzubauen.

Was macht denn guten Unterricht aus?

Man muss das Rad nicht neu erfinden, sondern man sollte Urteilskraft und Verantwortung derjenigen stärken und zur Geltung kommen lassen, die etwas von der Sache verstehen. Nach nichts anderem sehnen sich die Lehrer an den Schulen: endlich wieder ihrem Kerngeschäft von Unterricht und Erziehung nachgehen zu können - und das ist anspruchsvoll genug, gerade heute.

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