WirtschaftsWoche: Herr Krautz, Sie kritisieren die Ausrichtung des modernen Bildungssystems auf wirtschaftliche Bedürfnisse der Industrie und anderer Unternehmen. Warum?
Jochen Krautz: Ich bezweifle, dass es hier wirklich um wirtschaftliche Bedürfnisse der Unternehmen geht. Es geht vielmehr um die Ökonomisierung von Bildung. Das heißt dass, dass Bildung selbst einer ökonomischen Logik unterworfen wird.
Das bedeutet?
Junge Menschen werden wie Maschinen betrachtet, die ein Investitionsgut sind und deren Bildung Kapital abwerfen soll. Schulen sind dann Fabriken zur Herstellung solchen Humankapitals und Lehrer haben dies nach festgesetzten Standards zu produzieren. Das ist antihumanistisch und undemokratisch.
Zur Person
Jochen Krautz ist Gymnasiallehrer und Professor für Kunstpädagogik an der Universität Wuppertal. Krautz ist Autor des Buches "Ware Bildung. Schule und Universität unter dem Diktat der Ökonomie" und ein scharfer Kritiker der aktuellen Bildungspolitik.
Aber soll die höhere Schul- und die akademische Bildung nicht gerade anwendungsorientiert sein und auf den Beruf vorbereiten?
Ich kritisiere die Ökonomisierung von Bildung, nicht aber, dass Bildung auch etwas zur Berufsfähigkeit von jungen Menschen beizutragen hat. Sonst geraten wir in den alten und falschen Dualismus von Persönlichkeitsbildung versus Berufsausbildung. Dann vermutet man bei einem Kunstpädagogen wie mir natürlich, dass der von einem weltfernen ästhetischen Elysium träumt, während das „harte Leben“ doch ganz etwas anderes fordere. Das ist Unsinn.
Was Schüler in der neunten Klasse können sollen
Es ging um die Leistungen in Mathematik und Naturwissenschaften (Biologie, Chemie, Physik) – und zwar über alle Schulformen hinweg. In Mathematik wurden sechs Kompetenzformen aus dem gesamten Spektrum mathematischen Arbeitens untersucht, wie „Probleme mathematisch lösen“ aber auch „Raum und Form“ sowie „Daten und Zufall“. In den Naturwissenschaften ging es vor allem um Grundbildung, aber auch um fachübergreifendes Problemlösen.
Die Aufgaben wurden auf der Grundlage der von den Kultusministern für alle Bundesländern verbindlich eingeführten Bildungsstandards für diese Fächer entwickelt – unter Mitwirkung von Schulpraktikern. Bildungsstandards beschreiben, was ein Schüler am Ende einer Jahrgangsstufe können soll. Sie gelten für Lehrer als pädagogische Zielvorgabe und haben damit die zuvor in allen Bundesländern unterschiedlichen Lehrpläne abgelöst.
Die Untersuchung fand vormittags in der Schule statt und dauerte jeweils etwa dreieinhalb Zeitstunden (inklusive Pausen). Hinzu kamen anschließend Interviews mit Schülern, Fachlehrern und Schulleiter über die Lernbedingungen.
Der „Klassiker“ ist die weltweite PISA-Studie der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Des weiteren gibt es noch die internationale IGLU-Grundschulstudie und die internationale TIMSS-Untersuchung mit den Schwerpunkten Mathematik und Naturwissenschaften – sowohl für die Grundschule als auch für die achten Klassen. Allerdings haben die Kultusminister bei PISA und IGLU die zuvor üblichen Bundesländervergleiche gestoppt. Deutschland macht zwar bei den internationalen Studien weiter mit, aber nur noch mit einer kleineren nationalen Stichprobe – etwa 5000. Dies ermöglicht kein Bundesländer-Ranking.
Darüber lässt sich nur spekulieren: Die Kultusminister können die politisch brisanten Bundesländervergleiche auf der Basis ihrer eigenen vereinbarten Bildungsstandards sicherlich besser steuern. Auch das IQB arbeitet im Auftrag der Kultusministerkonferenz. Zuvor war es vor allem mit den internationalen PISA-Forschern der OECD wegen der ungünstigen deutschen Chancengleichheitswerte und der Schulstrukturfrage immer wieder zu Konflikten bei der Interpretation von Daten gekommen.
Überraschend ist, dass neben allen ostdeutschen Ländern diesmal aus dem Westen nur Bayern und Rheinland-Pfalz durchgängig gut abschneiden. Mathematik und Naturwissenschaften waren eine Domäne der DDR-Schulen. Auf die Fachlehrerausbildung legte man hier besonderen Wert. Auch spielen die Naturwissenschaften auf den Stundentafeln der ostdeutschen Schulen heute noch eine größere Rolle als im Westen.
Die Studie belegt erneut die erschreckend hohe Abhängigkeit von Bildungserfolg und sozialer Herkunft in Deutschland. Neuntklässler aus der Oberschicht haben gegenüber Gleichaltrigen aus bildungsfernen Schichten einen Lernvorsprung in Mathematik von fast drei Schuljahren.
Bildungsexperten raten seit Jahren, nicht ganze Bundesländer miteinander zu vergleichen, sondern besser Regionen mit ähnlichen Wirtschaftsstrukturen und Problemlagen. Also etwa Berlin mit dem Ruhrgebiet, wegen der hohen Ausländerquoten unter den Schülern, oder ländliche Gebiete im Osten Deutschlands mit denen im Westen, wegen Abwanderung und Bevölkerungsrückgang.
Wie kann man das Problem lösen?
Wilhelm von Humboldt hat hierzu eine immer noch überzeugende Lösung vorgelegt, dass nämlich allgemeine und berufliche Bildung schlicht auseinanderzuhalten seien und die allgemeine vor der spezifischen Bildung zu stehen habe. Und zwar gerade nicht als Privileg für wenige, sondern als Recht für alle: Bildung zu einer mündigen Persönlichkeit als Grundlage demokratischer Selbstbestimmung. Nur mit gebildeter Urteilskraft und am Gemeinwohl orientierter Verantwortlichkeit ist Demokratie möglich.
Warum wird die Ökonomisierung der Bildung in der Öffentlichkeit dann so vehement gefordert?
Man könnte meinen, das sei das Interesse „der Wirtschaft“. Denn tatsächlich haben die großen Wirtschaftsverbände die jetzige Entwicklung massiv propagiert und mit Lobbyarbeit unterstützt. Warum? In den entsprechenden Abteilungen der Wirtschaftsverbände sitzen eben Bildungsökonomen. Und die haben nicht nur keine Ahnung von Pädagogik, sondern denken in den unzulänglichen Kategorien neoliberaler Wirtschaftstheorie, die längst zum alleinigen Paradigma der Wirtschaftswissenschaft geworden ist.
In der Finanzkrise gab es einen kurzen Moment, in dem öffentlich wurde, dass diese neoliberale Monokultur des Denkens uns in das Desaster geführt hat. Es ist bei der Bildung nicht anders: Genau die ökonomistische Kurzsichtigkeit ist wesentlich mit Schuld am Bildungsdesaster. Kurz gesagt: Die Ökonomisierung von Bildung führt genau zu dem Bildungsverlust, den man nun selbst beklagt.
Aber nicht nur die Unternehmen, auch Parteien verlangen ständig nach einer Neuausrichtung des Bildungssystems...
Das ist in der Tat eine merkwürdige ideologische Konvergenz. Eine Art unheilige Allianz, die es sehr schwer macht, überhaupt noch pädagogischer Vernunft Gehör zu verschaffen. Gerade grüne Bildungspolitik gibt sich in einem romantisch-emphatischen Sinn als kinderfreundlich aus und konstruiert ganz in der Tradition bestimmter Linien der Reformpädagogik einen Widerspruch zwischen Kind und Kultur: Wenn Schule Kinder in Klassengemeinschaften zusammenfasst und ihnen abverlangt, sich in die gemeinsame Kultur lernend hineinzufinden, gilt das als tendenziell autoritär und repressiv. Stattdessen redet man von „Selbstentfaltung“, als sei das Kind ein Pflänzchen, das sich in guter Umgebung von selbst entwickle. Entsprechend schafft man etwa in Baden-Württemberg oder NRW den Klassenunterricht ab, vereinzelt die Kinder an isolierten Arbeitsplätzen und nennt das „selbstgesteuertes Lernen“. Das ist schlicht gegen alle Erkenntnisse von Humanwissenschaften und Entwicklungspsychologie: Der Mensch lernt nur mit und von anderen. Diese Sozialnatur macht uns als Menschen gerade aus.