Plurale Ökonomen Neue Lehren für die Volkswirtschaft

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Resonanz aus der Fachwelt

Mit der bisherigen Resonanz aus der Fachwelt ist Carlin zufrieden. Rund 35.000 Menschen haben sich das E-Book bereits heruntergeladen; weltweit sind rund 2800 Lehrkräfte auf der Website registriert, darunter mehr als 400 aus Deutschland. Wie viele Institutionen Core tatsächlich einsetzen, kann Carlin allerdings nicht beziffern. Zu den bekannten Beispielen zählen neben der Londoner UCL und der HU Berlin die Pariser Sciences Po und die Universitäten von Toulouse, Manchester und Siena.

2016 konnte Carlin auf der Jahrestagung des Vereins für Socialpolitik (VfS), der größten Ökonomenvereinigung im deutschsprachigen Raum, das Projekt in einem Workshop präsentieren, ebenso bei der Bundesbank und der Vereinigung der amerikanischen Volkswirte. Für dieses Jahr gibt es Einladungen aus Australien, Neuseeland, Frankreich, Spanien und Südafrika.

Das Interesse aus aller Welt kann allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass Core in der Praxis den Durchbruch noch nicht geschafft hat. In Deutschland ist der Berliner Ökonom Wolf bislang der einzige Hochschullehrer, der das Lehrbuch in größerem Stil nutzt. Entsprechende Überlegungen gibt es, so weit bekannt, nur noch in Jena und Heidelberg. Da spielt zum einen die Sprachbarriere eine Rolle – Core ist nur auf Englisch, Französisch und Italienisch verfügbar.

Wendy Carlin. Quelle: Privat

Vor allem aber ist das VWL-Curriculum hierzulande derart formalisiert, dass Standardlehrbücher – etwa das der US-Ökonomen Greg Mankiw und Hal Varian – für Prüfungen nach wie vor unverzichtbar sind.

Core habe „die inhaltliche Debatte in der VWL belebt“, sagt der VfS-Vorsitzende Achim Wambach, aber er könne sich vorstellen, „dass das Buch nicht in die Lehrstruktur vieler deutscher Hochschulen passt“. Studien des Netzwerks Plurale Ökonomik (NPÖ), in dem sich rund 30 wissenschaftskritische Studentengruppen zusammengeschlossen haben, monieren, dass Wirtschaftsgeschichte und „reflexive“ Fächer im VWL-Bachelor nach wie vor keine Rolle spielen und dass das Lehrangebot strikt neoklassisch geprägt sei.

Gleichwohl ist die Reaktion auf Core auch in der pluralen Szene verhalten. Das Projekt sei „alter Wein in neuen Schläuchen“, kritisiert NPÖ-Vorstandsmitglied Daniel Obst, 28. Zwar sei das Lehrbuch „rein didaktisch für VWL-Studenten ein großer Fortschritt“. Es würden Themen wie Verteilungsgerechtigkeit und Mindestlohnpolitik „mit empirischen Erkenntnissen diskutiert“ und nicht „wie so oft in der ökonomischen Lehre“ an „realitätsfernen Modellen“ gemessen. Doch für die – häufig prinzipiell marktskeptischen – Fundamentalkritiker des ökonomischen Mainstreams reicht das nicht aus.

„Core baut auf dem vorherrschenden neoklassischen Paradigma auf“, meint Obst, „und stellt dessen Grundannahmen wie effiziente Märkte, vollständige Konkurrenz und rationales Verhalten nicht grundsätzlich infrage.“

Der Student, der gerade auf seinen Master an der Universität Köln hinarbeitet, entwickelt daher mit Kommilitonen und Wissenschaftlern ein Konkurrenzprodukt zu Core. Ende 2016 ging die Lernplattform Exploring Economics online. Deren Ziel sei es, „Themen zu behandeln, die im gängigen Studium kaum oder gar nicht vorkommen“, sagt Obst. Und so finden sich hier Abhandlungen über die Österreichische Schule und den Postkeynesianismus, aber auch über Sachgebiete, die nicht unbedingt jeder im herkömmlichen Studium vermisst, über den Marxismus etwa und feministische Ökonomik.

Hinzu kommt eine Art Ökonomen-YouTube mit Erklärvideos. Förderer des Portals, das laut Obst im ersten Monat mehr als 40.000 Seitenaufrufe hatte, ist unter anderem Till van Treeck, Professor für Sozialökonomie an der Universität Duisburg-Essen und einer der führenden Köpfe der pluralen Ökonomenzunft.

Ein Patensystem – jeder Beitrag wird von einem Professor gegengelesen – soll die Qualität der von Studenten und Doktoranden geschriebenen Texte gewährleisten. Das freilich scheint noch nicht optimal zu funktionieren. Die WirtschaftsWoche bat den Präsidenten des Ludwig-von-Mises-Instituts, Thorsten Polleit, den Plattformtext zur Österreichischen Schule zu begutachten. Sein Urteil: „Ich würde den Beitrag meinen Studenten nicht empfehlen. Die prägenden Entwicklungslinien innerhalb der Österreichischen Schule werden nicht deutlich.“

Derweil entwickelt sich auch Core weiter. Für Juli kündigt Wendy Carlin eine überarbeitete Fassung mit zwei neuen Kapiteln an. Darin geht es um Arbeitsmarktpolitik und die komplizierte Beziehung von Kapitalismus und Demokratie. Erstmals soll es Core dann auch als Printausgabe geben. Die freilich wird nicht umsonst sein, sondern unter dem Titel „The Economy“ vom Verlag Oxford University Press für 40 Pfund auf den Markt gebracht. Am Ende, glaubt Carlin, greifen Studenten vor Prüfungen, ganz alte Schule, lieber doch auf ein physisches Lehrbuch zurück.

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