Gustav Theile ist viel unterwegs in diesen Tagen. Gerade hat er seine letzte VWL-Klausur des Semesters geschrieben, danach reiste er von Tübingen nach Düsseldorf zu einem Arbeitskreis kritischer Ökonomen. Der Student betreut die Arbeit eines Vereins, den er vor Jahren mitgründete, die Internationale Studierendeninitiative für Plurale Ökonomik (ISIPE). Über das Oster-Wochenende tagten Theile und die ISIPE mit Teilnehmern aus 24 Ländern in Paris. Und warum das alles? Theile und immer mehr Wirtschaftsstudierende kritisieren seit der Wirtschaftskrise 2008 ihr Fach: Zu engstirnig, zu marktgläubig, zu sehr eine Möchtegern-Naturwissenschaft sei die VWL geworden, finden die Kritiker. Stattdessen wolle man die neoklassische Theorie und Mathematisierung der VWL hinterfragen.
Auf der anderen Seite der akademischen Arena steht Rüdiger Bachmann, Nachwuchsbeauftragter des Vereins für Socialpolitik (VfS), Deutschlands wichtigstem Ökonomen-Club. Der Verein, kritisieren die Studierenden, würde nur den wissenschaftlichen „Mainstream“ repräsentieren. Vor zwei Jahren organisierten die deutschen Vertreter der Bewegung, das Netzwerk Plurale Ökonomik, in Münster eine (freilich wenig beachtete) Gegenveranstaltung zur VfS-Jahrestagung und lösten damit einen Streit aus. Bachmann, hauptamtlich Professor an der University of Notre Dame, Indiana, unterstellt der Bewegung, in der sich auch Markt- und Kapitalismusgegner sammeln, eine „linke gesellschaftspolitische Ideologie“, die sich um „Töpfe, Ressourcen und Macht“ sorge.
Mit einer neuen Studie wollen die Pluralen Ökonomen nun ihre Argumente mit Fakten unterfüttern. Dafür analysierten die Studierenden Uni-Lehrpläne in zehn Ländern und bewerteten diese anhand ihrer Nähe zum ökonomischen Mainstream. Das Ergebnis sei „geradezu erschreckend“, findet Jakob Hafele vom Netzwerk Plurale Ökonomik. So sei durchschnittlich nur jeder 50. Pflichtkurs im Studium methodisch offen oder behandle die Wirtschaftsgeschichte. Von diesen Inhalten wünschen sich die Pluralen jedoch mehr.
Deutschsprachige Ökonomen und Soziologen des 20. Jahrhunderts
Der österreichische Ökonom und Sozialphilosoph gehörte zwar nicht zur Freiburger Schule, hat Erhard aber dennoch stark beeinflusst. In einem waren sie sich weitgehend einig: Das Wort "sozial" ist in Verbindung mit "Markwirtschaft" unsinnig, weil der Markt an sich Sozialität herstellt. Die Ökonomen Röpke, Eucken und Müller-Armack sahen das ganz anders.
Der Nestor des Ordoliberalismus sorgte mit seinen "Grundlagen der Nationalökonomie" 1939 dafür, dass Erhard nach dem Zweiten Weltkrieg ein theoretisches Konzept vorlag. Wegweisende Gedanken, vor allem über den Zusammenhang von Macht und (Un-)Freiheit.
Als Mitglied der NSDAP erhoffte sich der Ökonom und Kultursoziologe einen starken Staat mit stabiler Wirtschaftspolitik. 1946 entwickelte das CDU-Mitglied in "Wirtschaftslenkung und Marktwirtschaft" den Begriff der "sozialen Marktwirtschaft". Später wirkte er als Leiter der Grundsatzabteilung im Bundeswirtschaftsministerium von Ludwig Erhard.
Der wortmächtigste unter den geistigen Vätern der sozialen Marktwirtschaft war bereits mit 24 Jahren Professor. Der Ökonom und Sozialphilosoph lehnte den Nationalsozialismus als "Massenaufstand gegen die Vernunft" ab und verfasste nach dem Krieg eine Reihe von glänzenden Büchern, in denen er unter anderem den Markt als Kulturform konturierte und ein frühes Lob der Ökologie sang.
SPD-Chef von 1946 bis 1952, wollte "aus Deutschland noch ein sozialistisches Land auf wirtschaftlichem Gebiet" machen. Im Godesberger Programm der SPD (1959), das Karl Schiller maßgeblich mitgestaltete, hieß es: "Wettbewerb soweit wie möglich, Planung soweit wie nötig." Erst 1963 war die SPD so weit, dass der spätere Wirtschaftsminister jede Art von Planung ablehnte.
Helmut Schelsky hat den Erfolg der sozialen Marktwirtschaft bereits 1953 auf den soziologischen Begriff gebracht. Erhard hat ihn vier Jahre später mit "Wohlstand für alle" ins Volksdeutsche übersetzt. Gemeint ist die Herausbildung einer breiten Mittelschicht mit gut bezahlten Angestellten.
Rüdiger Bachmann pflichtet den Studierenden bei – zumindest teilweise. „Es stimmt, dass die Lehre sich zum Teil auf simpelste Mathematik beschränkt.“ Doch dass die Pluralen nur Wirtschaftsgeschichte als „reflexiv“ gelten lassen und dieses Attribut nicht auch der Makroökonomik zusteht, sei „verkürzt. Zumindest meine Studenten werden in Makroökonomik zum Nachdenken gebracht.“ Im Übrigen sei Dogmengeschichte kein Muss: „Wenn jemand sich philologisch über Marx oder Eucken auslassen will, ist er vielleicht besser bei den Philosophen aufgehoben. Das wird sich in Zukunft auch nicht mehr ändern.“
An Universitäten tut sich was
Bachmann glaubt, dass die Pluralen sich zu sehr auf die Anerkennung einzelner Methoden konzentrieren, statt interessante Themen aufzuwerfen. Solange also das Thema stimmt, werden alle Methoden gleichwertig diskutiert? „Ich bin im Prinzip für alle Ansätze offen“, sagt Bachmann. Ob der VfS deswegen aber auch eine führende Rolle übernehmen soll, wenn es um gute Lehre geht, bezweifelt er. „Wir können nicht kontrollieren, wie die Kollegen ihre Vorlesungen halten.“
Wie die Lehre im Hörsaal tatsächlich aussieht, will Frank Beckenbach, Verhaltensökonom an der Universität Kassel, mit einer Anfang Mai erscheinenden Studie zeigen. Sein Team untersuchte die Inhalte aus über 50 deutschen Bachelor-Studiengängen auf ihre Qualität und befragte auch das Lehrpersonal. Das Ergebnis: Statt die Studentenbewegung zu ignorieren, machen sich viele Ökonomen ernsthafte Gedanken zu ihrer Zunft. Bemühungen etwas zu ändern, scheiterten jedoch oft an den Institutionen – als Lehrkörper sei man „interessiert, aber behindert“, sagt Beckenbach. Der Grund dafür sei ein „vorauseilender Gehorsam“ unter den Ökonomen – man lasse sich vom Druck internationaler Fachzeitschriften beeinflussen. Die Rhetorik von Rüdiger Bachmann hält der Kassler Beckenbach für unangemessen und findet, der Verein vertrete „eine ganz eingeschränkte Perspektive.“
Bei welchen Unternehmen junge Wirtschaftswissenschaftler arbeiten wollen
Procter & Gamble (P & G)
Das Beratungsunternehmen Universum hat insgesamt 242.061 Studenten (121.100 aus den Wirtschaftswissenschaften und 120.961 aus den Ingenieur- bzw. IT-Wissenschaften) auf der ganzen Welt gefragt, wo sie später arbeiten wollen. 2014 platzierte sich der Konsumgüter-Konzern noch auf Platz 7 der Top 10-Unternehmen, in denen junge Wirtschaftswissenschaftler arbeiten wollen. 2015 rutscht er auf Platz 10.
J.P. Morgan
Die US-amerikanische Bank mit Sitz in New York bleibt wie in 2014 unter den Top 10-Arbeitgeber der Wirtschaftswissenschaftler-Absolventen (2014: Platz 10).
Microsoft
Anders als sein Konkurrent Apple fällt Microsoft 2 Plätze (2014: Platz 6).
Apple
Bei den Ingenieuren bereits auf Platz 3 - Apple klettert nun auch bei den Wirtschaftswissenschaftlern von Platz 9 auf Platz 7.
Deloitte
Bei Studierenden der Wirtschaftswissenschaft bleibt Deloitte beliebt, fällt jedoch einen Platz im Vergleich zum Vorjahr.
KPMG
Das Unternehmen im Bereich Wirtschaftsprüfung fällt von Platz 4 (2014) auf Platz 5 bei der Beliebtheit.
Goldman Sachs
Das Investmentbanking- und Wertpapierhandelsunternehmen macht 4 Plätze gut und klettert von Platz 8 (2014) auf Platz 4.
EY (Ernst & Young)
Einen Platz gutmachen muss der Wirtschaftsprüfer EY beim Arbeitgeber-Ranking.
PwC (PricewaterhouseCoopers)
Das Dienstleistungsunternehmen PwC klettert 2015 auf Platz 2 bei den Wirtschaftswissenschaftlern und verdrängt damit Ernst & Young.
Genauso wie bei den Ingenieuren ist Google auch bei den Wirtschaftswissenschaftlern weltweit auf Platz 1 der beliebtesten Arbeitgeber.
Angesichts des Wissenschaftlerstreits geht nahezu unter, dass sich an den Unis durchaus etwas tut. Beispiel Siegen: Dort baut Nils Goldschmidt, ordnungspolitisch geprägter Ökonom und seit 2014 Vorsitzender der Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft, gerade den „Master Plurale Ökonomik“ auf – nach eigenen Angaben der erste seiner Art. Goldschmidt ist guten Mutes, dass der Master bei Studierenden ein Erfolg wird, denn diese hätten durch ihre Kritik am Mainstream zur Entstehung beigetragen: „Von den Studierenden gibt es den Push. Die Uni spielt auch mit. Es ist ein günstiger Moment.“ Zum Sommersemester 2016 startet an der Business and Information Technology School (BiTS) in Berlin zudem der neue Masterstudiengang „Entrepreneurial Economics and Management“, in dessen Mittelpunkt die Österreichische Schule der Nationalökonomie steht.
„Die Unis müssen es schaffen, Inhalte aus der ganzen Welt der Ökonomik zu verknüpfen“, betont Goldschmidt. „Die Studierenden sollen sich wieder zu gesellschaftspolitischen Fragen positionieren können und nicht nur Modelle durchrechnen.“ Damit ist er nah bei Bachmann.
Es scheint, als wollten am Ende doch alle Streitparteien das Gleiche: die richtige Antwort auf ökonomische Fragen zu finden. Gustav Theile darf also zuversichtlich sein, dass ein Wandel gelingt. Schließlich widmet er der pluralen Bewegung inzwischen mehr Zeit als dem Studium.