In Frankreich zeigt sogar eine Eieruhr, wie lange manch Doktorand bereits an seiner Dissertation sitzt. Grün heißt fertig, gelb heißt angefangen. Michael Grupp lacht etwas, als er die Geschichte erzählt. Ganz soweit wird die Gruppe der Mainzer Doktoranden nicht gehen, die nun auch in Deutschland eine Datenbank für Promotionen aufbauen möchte. Ähnlich wie das französische theses.fr. "Jeder weiß, dass so ein Portal hier fehlt", sagt Grupp. Wer promoviert, muss sein Werk publizieren. Das Problem dabei: Veröffentlichte Arbeiten sind nicht immer auffindbar. Doktoranden, die wissen wollen, ob ihr Thema bereits von anderen bearbeitet worden ist, fällt die Suche danach schwer. Sie braucht oft eine Menge Zeit und Geduld. Deshalb haben Grupp und seine Partner thesius gegründet, die Idee sei aus der eigenen Verzweiflung geboren. Thesius wirbt nun schon mit dem Slogan "Alle, wirklich alle Doktorarbeiten seit 1960". Das klingt vermessen und soweit sind sie auch noch längst nicht. Das Portal ist seit Anfang des Jahres online, zunächst nur für Jura und Wirtschaft. Weitere Fächer sollen nach und nach im Sommer folgen.
Ausgangspunkt der digitalen Doktorarbeitensammlung ist die Deutsche Nationalbibliothek. Hier sind die meisten Dissertationen in Deutschland gespeichert. Eigentlich muss jeder Doktorand seine Arbeit hier einschicken. Doch das Team um Grupp hat in den Verzeichnissen der Universitäten auch Werke gefunden, die im Online-Katalog der Bibliothek nicht zu finden waren. Außerdem haben sie nach Links zu Amazon oder Google Books gesucht. 1,6 Millionen Datensätze seien zurzeit verfügbar. Allerdings gibt es die wenigsten Werke als Volltexte – vor allem aus Gründen des Urheberrechts.
10.000 Dissertationen bereits abrufbar
Das Besondere an thesius ist die Suchfunktion. Alle Dissertationen sind Sachkategorien zugeordnet, nach dem Klick auf eine Oberkategorie folgen Unterkategorien, die immer spezieller werden. Zu Dissertationen zum Thema Adoption gelangt man mit drei Klicks: Erst auf Recht, dann auf bürgerliches Recht/Privatrecht allgemein, dann auf Adoptionsrecht. Ein Graph zeigt die Verbindung der Kategorien zueinander an. "Das findet man zunehmend in amerikanischen Bibliotheken", sagt Grupp. So sollen auch Werke gefunden werden, die nicht ein eindeutiges Schlagwort im Titel enthalten.
Zurzeit werden die meisten Dissertationen von Hand mit Tags versehen, mehr als 10.000 hat das Team geschafft. Künftig sollen ihnen vermehrt Computerprogramme helfen. Sie wollen mit Algorithmen, Netzen und Vektoren arbeiten. Doch das brauche Zeit, Monate, vielleicht Jahre.
Doktoranden sollen sich austauschen und helfen
Alle Dissertationen auf einen Blick, so könnte das Projekt auch für die Suche nach Plagiaten hilfreich sein. Das sei aber nur ein positiver Nebeneffekt und nicht das eigentliche Ziel. "Wir sollten Doktoranden aus der Dunkelheit der Bibliothek rausholen", sagt Grupp. Nach den letzten Plagiatsfällen gab es Forderungen nach einer Digitalisierungspflicht. Das hieße, dass Promotionen nicht mehr nur als Buch veröffentlicht werden müssten, sondern für jeden im Internet einsehbar wären. Wissenschaftlich sei das sinnvoll, sagt Grupp. Alle Volltexte im Katalog zu haben sei natürlich der große Wunsch, der Traum von thesius. Die Seite möchte sich aber nicht als politisches Projekt positionieren.
Im Vordergrund stehe der Austausch unter Doktoranden. Nutzer erstellen ein Profil mit Publikationen, Interessensgebieten, Stipendien und Auslandsaufenthalten. Ein kleines Facebook für Promovierende. Die können suchen und sehen: Wer hat zu einem ähnlichen Thema veröffentlicht? Wo gibt es Schnittstellen? Wer kann mir vielleicht helfen?
Carolin Zimmerschmidt aus Köln hat nach Doktoranden gesucht, die sich mit internationalem Recht auskennen. In ihrer eigenen Arbeit forscht sie zum Verbraucherschutz, an der Uni hat sie dazu vertieft nur das deutsche Recht gelernt. "Meine Dissertation ist eine Zwitter-Arbeit, genau an der Schnittstelle." Jetzt hat sie über thesius nicht nur andere Doktoranden mit Expertise gefunden und angeschrieben, sondern auch Kollegen für gemeinsame Veröffentlichungen. Zimmerschmidt arbeitet nicht an der Uni, sondern nebenbei in einer Kanzlei. "Wer extern promoviert, ist manchmal außen vor", sagt sie.
Zimmerschmidt ist eine von mehr als dreihundert Doktoranden, die aktuell promovieren und sich angemeldet haben. Gründer und thesius-Geschäftsführer Grupp glaubt an das Potenzial. "Auch StudiVZ hatte in den ersten Wochen nur mehrere Hundert Nutzer", sagt er. Das Portal finanziert sich über Investoren, die mit ihrem Logo auf der Seite werben können. Auf die Daten sollen sie keinen Zugriff haben, sagt Grupp. Der Login soll nur tatsächlichen Doktoranden erlaubt sein, jede Registrierung werde von Hand geprüft. "Wir verlangen aber keine Immatrikulationsbescheinigung", sagt Grupp.
Er könne sich weitere Kooperationen mit Unternehmen vorstellen, wie zum Beispiel die Vermittlung von Themen für Bachelorarbeiten, Masterarbeiten oder Promotionen. Dann aber, so sagt Grupp, auf einer neuen Plattform, parallel zu thesius.
Dieser Artikel ist zuerst auf Zeit online erschienen.