Das Sitzenbleiben stellt dabei nichts weiter dar, als den krampfhaften Versuch, die Unterschiedlichkeit der Schüler in ein unvollständiges Raster zu pressen. Von eins bis sechs, von Abitur bis Hauptschulabschluss, mit Ehrenrunde, ohne oder gar mit „überspringen“. Das muss reichen. Es ist schulische Zielerfüllung in der Form, wie sie Michel Foucault in seinem großen Werk „Überwachen und Strafen“ beschrieben hat: Hier geht es nicht darum, Schülern ein höchst mögliches Maß an Wissen beizubringen, sie so zu mündigen Bürgern zu erziehen, die im demokratischen Staat mitarbeiten und ihr Glück suchen zu können. Hier wird die Machtverteilung einer hierarchischen Gesellschaft vorgezeichnet. Einer ist oben, einer in der Mitte, einer unten. Jeder kann sich von einem anderen absetzen, im Befehle erteilen oder gehorchen.
Dabei weiß jeder nicht nur jeder Pädagoge, sondern auch jeder ehemalige Schüler, wie zufällig und subjektiv die Auswahl der „Sitzenbleiber“ ist. Ob einer sitzenbleibt, hängt keineswegs nur von seiner objektiven Leistungsfähigkeit ab. Jedermann wird sich an einige Lehrer erinnern, mit denen er besser klargekommen ist und an andere, bei denen es schlechter lief. Der eine fällt dadurch vom „sehr gut“ aufs „befriedigend“, der andere leider vom „gut“ aufs „mangelhaft“. Auch Quoten spielen eine Rolle. Denn gewollt oder ungewollt orientieren sich Noten zumindest mittelfristig an der Gaußschen Normalverteilung. In jeder Klasse, sei sie im Mittel gut oder schlecht, werden deshalb auch sehr gute und mangelhafte Zensuren verteilt. Das aber bedeutet, wer das Pech hat, Schüler in einer durchschnittlich guten Klasse zu sein, bleibt unter Umständen mit einer Leistung sitzen, für die er anderswo das „ausreichend“ noch erreicht hätte. Im Stadium der Auslese ist das Instrument Sitzenbleiben daher zutiefst ungerecht, in der Umsetzung höchst ineffizient.
Stattdessen sollten die Länder endlich dafür sorgen, dass der Anspruch auf „individuelle Förderung“, den sie ihrem Nachwuchs an den Universitäten seit Jahren predigen und der in manchen Ländern gar als Rechtsanspruch im Gesetz steht, Wirklichkeit wird. Wer mit dem Stoff nicht nachkommt, der muss zusätzlichen Unterricht erhalten oder im Zweifel eine vernünftige Beratung, die ihn zu einem anderen Abschluss führt.
Wer dagegen einwendet, so entfalle die Drohkulisse, welche Schüler mitunter erst zu Leistungen motiviere, der sei erneut an seine eigenen Jugend erinnert: Was mag wohl mehr schmerzen, die Drohung des Klassenwechsels und eines fernen Zusatzjahres oder die Aussicht, die ganzen Sommerferien im Förderunterricht zu verbringen?