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Universität Sinnvolle Bildung ist möglich - trotz Bologna

Ein Bachelor-Studium allein bietet nicht, was die Absolventen wirklich brauchen - auch für den Arbeitsmarkt. Wie Studenten das in eigener Initiative ändern können.

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Abschusszeremonie an der International University Bremen (IUB): Studierende aus aller Welt erhalten ihre Bachelor-Zeugnisse. Quelle: dpa/dpaweb

Die deutsche Wirtschaft begrüßte vor zehn Jahren den europaweiten Bologna-Prozess und die daraus folgende Hochschulreform, vor allem die kürzeren Studienzeiten. Mittlerweile wird immer klarer, dass das was bei der Reform zu kurz kam, durchaus von Bedeutung ist, für die Studenten, aber auch für ihre künftigen Arbeitgeber. "Die Unternehmen brauchen Persönlichkeiten, nicht nur Absolventen. Eine Universität muss mehr leisten als Ausbildung, nämlich Bildung", sagte Horst Hippler, Präsident der Hochschulrektorenkonferenz, in einem SZ-Interview über die unbefriedigende Umsetzung der Hochschulreform. Bildung im eigentlichen Sinn, das ist etwas, das man nicht in Zahlen fassen und schwer greifen kann. Im Management-Kauderwelsch gehört sie zu den "Soft Skills", den weichen Fähigkeiten.  

Ein wenig mehr Klarheit, woran es denn nun genau hapert bei den frischgebackenen Bachelors und Bacheloretten, liefert eine Studie der DIHK (Deutscher Industrie- und Handelskammertag). Sie befragte 2175 Unternehmen, ob Bachelor-Absolventen ihre Erwartungen erfüllen. Zwar sind rund zwei Drittel der Unternehmen zufrieden mit den Hochschulabgängern, ein Drittel jedoch vermisst grundlegende Fähigkeiten: allen voran praktische Erfahrungen, gefolgt von Fachwissen, außerdem persönliche und soziale Kompetenz. Darüber hinaus sind die Auslandsaufenthalte der Bachelorstudenten im Vergleich zu Diplom- und Magister-Studenten um die Hälfte zurückgegangen.

Kürzere Studienzeit, weniger Qualifikation 

Kolja Bridies vom Institut für Hochschulforschung des HIS (Hochschulinformationssystem) jedoch verwundert die harsche Kritik an Reform und Absolventen: „Hier werden völlig überzogenen Erwartungen geschürt. Wenn ich ein Fußballspiel von 90 auf 60 Minuten verkürze, darf ich mich auch nicht beschweren, wenn in der kürzeren Zeit weniger Tore fallen.“ Das mangelnde Fachwissen sei eine logische Konsequenz der verkürzten Regelstudienzeit, ein vertieftes Wissen oder eine Spezialisierung können die Unternehmen erst von Master-Absolventen erwartet. Dagegen richtet sich Briedies Kritik gegen die starre Umsetzung des Bologna-Prozesses in Deutschland. Er fordert das Studium flexibler zu gestalten, sich anstatt an einer fixen Semesterzahl lieber an Lernzielen zu orientieren. Außerdem habe der Bologna-Prozess Probleme an die Oberfläche gespült, die schon vor der Reform existierten: unstrukturierte Studienpläne, ungenügende Prüfungsvorbereitung für die Studenten und dadurch bedingt eine Abbrecherquote von bis zu 50 Prozent.

Damit reiht sich Briedies in die Front der Kritiker ein, die eine Reform der Reform fordern. Doch Studienanfänger können nicht warten bis Politik und Universitäten irgendwann einmal den Reformstau in deutschen Hochschulen auflösen. Sie wollen jetzt ein sinnvolles und ausgewogenes Studium absolvieren, das sie gezielt auf ihr späteres Arbeitsleben vorbereitet. Doch angehende Studenten fragen sich oft, wie sie alles unter einen Hut bekommen sollen: Studium zügig durchziehen, gleichzeitig praktische Erfahrungen sammeln, Auslandsaufenthalte absolvieren und zu einer rundum gebildeten Persönlichkeit heranreifen. Bridies rät zu einer Prioritätenliste, die sich Studenten zu Beginn des Studiums anfertigen sollten. Ganz oben auf die Liste würde er praktische Erfahrungen setzten, gefolgt von einem „Blick über den Tellerrand“, für den es verschiedene Möglichkeiten gibt. Auf der Liste müsse aber nicht alles von A wie Auslandsaufenthalt bis Z wie Zusatzqualifikation stehen.

Die beliebtesten Studienfächer in Deutschland
IngenieurwissenschaftenIn dieser Fächergruppe fiel der Rückgang besonders stark aus: Noch knapp 106.300 junge Menschen begannen dieses Studium. Das sind 8,8 Prozent weniger als im Vorjahr. Vor allem die Zahl der männlichen Studienanfänger sank, während die Anzahl der Frauen stieg. Ursache ist nach Angaben der Statistiker die Aussetzung der Wehrpflicht im Jahr 2011, die damals zu einem deutlichen Anstieg der männlichen Erstimmatrikulierten geführt hatte. Quelle: dpa/dpaweb
Platz 1Es muss nicht immer das oberste Gericht sein wie die Richter vom Bundesverfassungsgericht (Bild). Für 185.856 Studienanfänger, die voriges Semester 2011/2012, das Studium der Rechts-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften angefangen haben, gibt es an deutschen Gerichten auch nicht genügend Arbeitsplätze. Die Politologen, Volkswirte und Juristen, die jedes Jahr zu Tausenden die Universitäten verlassen, finden ausreichend Betätigungsfelder in Politik, Wirtschaft und Medien. Quelle: dapd
Mathematik und NaturwissenschaftAuch in dieser Fächergruppe sank 2012 die Anzahl der Erstimmatrikulierten im Vergleich zum Vorjahr um 7,2 Prozent. Insgesamt schrieben sich 84.600 Anfänger für das Studium ein. Quelle: dpa/dpaweb
Sprach-und Kulturwissenschaften 82.600 Personen nahmen 2012 ein Studium aus der Fächergruppe der Sprach- und Kulturwissenschaften auf. Damit ist auch hier ein Rückgang um 5,1 Prozent zu verzeichnen. Quelle: dpa
Rechts-, Wirtschafts- und SozialwissenschaftenFür ein Studium dieser Fächergruppe entschieden sich 163.500 Studierende. Mit 2,9 Prozent ist lediglich ein kleiner Rückgang zu verzeichnen. Quelle: dpa
Humanmedizin und GesundheitswissenschaftenAls einzige Fächergruppe kann der Bereich Humanmedizin und Gesundheitswissenschaften ein Plus verzeichnen und dann direkt - mit 7,9 Prozent - ein großes. 24.100 Studienanfänger gab es in diesem Bereich im vergangenen Jahr. Quelle: dpa

Bridies betont stattdessen, dass Studenten der „Generation lückenloser Lebenslauf“ auch einfach mal den Druck rausnehmen sollten: „Bleibt gelassen – ihr seid kein Knecht der Regelstudienzeit. Ein ausgewogenes Gesamtprofil ist für Unternehmen viel interessanter als ein möglichst junger Absolvent.“ Anstatt blind diffuse Anforderungskataloge zu befolgen, sollten angehende Studenten sich lieber fragen: Was ist mir wichtig? Was ist sinnvoll für mich? Ist ihnen die Zielsetzung klar, können sie strategisch ein buntes Gesamtpaket schnüren. Ein Informatikstudent könne sich beispielsweise ein Praktikum bei einem Online-Shop suchen, um das im Studium Gelernte beim Internet-Auftritt des Unternehmens auszuprobieren. Um nicht ganz in der Welt der Nullen und Einsen abzutauchen, könnte der Besuch einer fachfremden Vorlesung in Kunstgeschichte oder Philosophie Spaß machen und neue Perspektiven liefern. Ein Wirtschaftsstudent, der seine Zukunft in einem internationalen Unternehmen sieht, könnte über ein Auslandssemester nachdenken, das verbessert das Niveau in der Fremdsprache, stärkt die Persönlichkeit und erweitert den kulturellen Horizont.

Sobald sich Studenten überlegt haben, inwiefern ein Erasmus-Semester in Barcelona oder ein Praktikum in der Marketingabteilung eines Handy-Anbieters Sinn machen, gilt es aus der Vielzahl der Möglichkeiten auszuwählen. Und: sich gleichzeitig von der Illusion befreien, dass alles in der Regelstudienzeit möglich ist. Wenn das Bachelor-System schon nicht flexibel ist, müssen die Studenten eben flexibel werden und ihr Studium gegebenenfalls um ein oder zwei Semester verlängern, wenn sie so wichtige Erfahrungen jenseits des Campusalltag integrieren können. „Schöpft alle Möglichkeiten aus, um eure persönlichen Ziele zu erreichen. Macht aber nichts, nur weil es gut für den Lebenslauf ist – das geht meistens in die Hose“, fordert Bridies von den Studenten. Dabei ist Eigeninitiative gefragt: die Hochschulen haben schon viele Angebote geschaffen – in die Hand nehmen müssten die Studenten die Umsetzung aber selbst.

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