Als Mitglied einer Jury für einen Dissertationspreis habe ich in den letzten Tagen viele Bewerbungen gelesen. Die Arbeitsgebiete und Disziplinen zu denen meine Einschätzung gefragt war, reichten von der Ökologie über die Chemie bis hin zu Marketing und Medienwissenschaften. Also, ganz ehrlich, weit über meine wirkliche Expertise hinaus. Wie soll man da objektiv Äpfel und Orangen vergleichen, oder selbst innerhalb einer wissenschaftlichen Disziplin eine nachvollziehbare Wertung vornehmen? Am allerwenigsten helfen da die stets des Lobes vollen Gutachten oder gar die Abschlussnoten, denn die waren ausschließlich mit Topnoten beurteilt worden. In Gutachten habe ich schon gelegentlich Vergleiche zwischen Jesus und dem Bewerber gelesen, in denen dem Bewerber auch die Fähigkeit, über Wasser gehen zu können, zugeschrieben wurde.
Wissenschaftliche Leistungen folgen, wie die meisten Dinge im Leben einer Normalverteilung. Der Intelligenzquotient beschreibt den durchschnittlich intelligenten Menschen mit einer willkürlichen Zahl von 100 und die Summe der Intelligenzquotienten folgt dann erwartungsgemäß einer Gaußschen Verteilung über diesen Mittelwert. Wenn jemand zwei Standardabweichungen über diesem Mittelwert liegt, dann gehört sie oder er zu den 5 Prozent der intelligentesten Menschen dieser Testreihe.
Bei Studenten im Grundstudium an den Universitäten Deutschlands folgen wir Dozenten in großen Anfängervorlesungen auch meist so einem Notenschlüssel. Wir stellen die Verteilung der erreichten Punktzahl der Klausur graphisch dar benoten den erreichten Mittelwert mit einer 2- oder 3. Die Verteilung um diese Durchschnittsnote wird dann dazu benutzt, um den besten 10 Prozent der Studenten eine „1“ zu geben und den schwächsten 10 Prozent eine 5 oder 6. Soweit so gut und nachvollziehbar. Es ist also nicht leicht eine 1 zu bekommen. Die Note sollte ja auch etwas aussagen und sich objektiv, im Vergleich zum Rest des Jahrgangs rechtfertigen lassen.
Im Grundstudium werden dadurch auf der schwachen Seite der Kurve nur 10-20 Prozent „ausgesiebt“. Dennoch brechen bis zum Bachelor wohl doch – je nach Studienfach – fast 50 Prozent ihr Studium ab. Dies ist bedauerlich. Und trotzdem ist es für alle Beteiligten - die Steuerzahler, die das Studium ermöglichen, die lehrenden Professoren und insbesondere für die Studenten selbst - besser, ihnen eher früher als später klar wird, dass Ihre Studienwahl verfehlt war und sie etwas anderes mit ihrem Leben tun sollten.
Nach dem bestandenen Bachelorabschluss passiert dann etwas Merkwürdiges. Wo es im Grundstudium schwierig war, eine gute Note in den Klausuren zu erhalten, ist es im Hauptstudium plötzlich anscheinend schwierig geworden, eine schlechtere Note als eine „1“ oder gar „2“ zu bekommen. Was ist da los? Sicherlich geht die Qualität der Studenten im Durchschnitt hoch, denn es handelt sich ja nur noch um die vielleicht 50 Prozent Besten.
Aber an der relativen Normalverteilung von Fleiß und Talent um den besseren Durchschnittsstudenten hat sich nichts geändert. Es sollten also weiterhin nur etwa 10 Prozent der Studenten eine „1“ bekommen und 10-20 Prozent eine „4“ oder „5“. Dennoch, wie eine gerade veröffentlichte Studie des Wissenschaftsrates zeigt, herrscht in fast allen Studienfächern Deutschlands (mit Ausnahme der Rechtswissenschaften) eine frappante Noteninflation.
Eine Masterarbeit oder Dissertation in meinem Fach, der Biologie, wird heute wie in fast allen anderen Fächern bei fast allen, ja wirklich fast allen Studenten mit einer „1“ benotet. Die Gradierung findet dann nur noch hinter dem Komma statt. Eine Note mit einer „2“ vorm Komma wird selten vergeben und damit schon fast als „rite“ betrachtet. Eine wirkliche „4“ (rite) habe ich in mehr als 15 Jahren als Professor in Konstanz noch nie gesehen. Dabei hätten wenigstens 10-20 Prozent der Abschlussarbeiten fairerweise im Vergleicht zu den wirklich Guten so benotet werden müssen.
Noten wurden mehr und mehr zur Farce
So werden Noten mehr und mehr zur Farce. Und die wirklich „Guten“ und „Sehr Guten“ werden benachteiligt, weil man sie nicht mehr von den Mittelmäßigen, aber auch mit „Sehr gut“ Benoteten, unterscheiden kann. Die Biologie ist da mit 98 Prozent der Abschlussnoten nicht ungewöhnlich - auch die Absolventen in Psychologie (97 Prozent), Philosophie und Geschichte, aber auch in Physik und Chemie wurden fast komplett „sehr gut“ oder „gut“ benotet. 95 Prozent aller Abschlüsse in den Geisteswissenschaften werden mit den Noten „Sehr gut“ und „gut“ schlecht bedient.
Diese Entwicklung hat wohl maßgeblich damit zu tun, dass man es sich als Professor nicht erlauben kann, auf längere Zeit schlechtere Noten als die Kollegen zu verteilen, sonst blieben die Masterstudenten weg. Deren Zahl ist politisch vorgegeben und wir brauchen sie auch für die Forschung.
Ganz anders die Situation in den Rechtswissenschaften. Eine „1“ ist dort fast unbekannt (nur 0,1 Prozent aller Kandidaten erhielten diese Note), die Durchschnittsnote republikweit ist eine 3,3 und 92 Prozent aller Noten waren „befriedigend“ oder „mangelhaft“. Etwa ein Drittel aller Staatsexamenskandidaten bestanden diese Prüfung nicht einmal. Die Juristen (genauer die Landesjustizprüfungsämter, denn die benoten die Staatsexamina) haben Recht. Eine 3 sollte die Note eines durchschnittlichen Studenten und eine 1 den wirklichen Überfliegern vorbehalten sein.
Denn wie sieht die berufliche Situation am Ende aus? Ein durchschnittlicher Biologe, der mit einer 1 seinen Master gemacht hat, wird bestenfalls in einem Job als Pharmareferent landen können wo er Ärzten die neuesten Medikamente aufzuschwatzen versuchen muss. Ein begabter Jurist jedoch, der „gut“ benotet wurde, wird sich die Starkanzlei mit einem mehrfachen des Gehalts des angeblichen Einser-Biologen aussuchen können. Damit will ich natürlich nicht implizieren, dass Juristen etwas Nützlicheres tun als Biologen, nur weil sie besser bezahlt werden.
In den USA werden keine Noten für Dissertationen vergeben, sondern allein ein „pass“ oder ein „fail“. Da wird es dem Markt überlassen zu beurteilen, ob ein Ph.D.-Titel aus North Dakota genauso viel zählt wie eine Abschlussarbeit aus Princeton. Auch dies ist kein perfektes System, weil es natürlich auch an den Eliteunis schwache Dissertationen gibt und exzellente aus weniger angesehenen Fachbereichen oder Universitäten.
Ich habe die Noteninflation an der Harvard Universität persönlich während meines Studiums erlebt. Dort will man Studenten, deren Eltern sehr viel Geld für das Studium bezahlen, nicht entmutigen. Auch das ist ein falscher Weg, denn allein der Abschluss aus Harvard, egal mit welcher Note, ist ja schon ein Türöffner für eine steile berufliche Karriere.
In Deutschland müssen wir zurück zu einer ehrlicheren und faireren Benotung. Und wir sollten aufhören, den Studenten etwas vorzumachen. Die Professoren wissen natürlich schon längst, dass da etwas nicht im Lot ist. Insbesondere die Riege der „Exzellenzuniversitäten“ in Deutschland sollte vorangehen und genügend Selbstvertrauen entwickeln, um Noten des gesamten Spektrums wieder nach einer Normalverteilung zu vergeben. Nicht jeder Doktorand oder Habilitand sollte gut genug sein für einen Titel oder sogar eine Note „sehr gut“. Nur dann werden Noten auch wieder etwas zählen und Abschlüsse einiger Universitäten mehr zählen, als die von anderen.