Bewerbung Warum der Lebenslauf überschätzt wird

Viele Bewerber tendieren dazu Informationen in ihrem Lebenslauf schmeichelhaft auszuwählen, zu verändern oder einfach wegzulassen. Quelle: imago images

Noch immer hat der Lebenslauf bei Personalern einen hohen Stellenwert – dabei erlaubt er nur begrenzt Rückschlüsse auf die zukünftige Leistung. Wie können Unternehmen trotzdem geeignete Bewerber finden?

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„Wer sind Sie?“ Eine Frage, mit der wahrscheinlich jeder schon einmal im Verlauf eines Bewerbungsprozesses konfrontiert wurde. Und die intuitive Reaktion ist meistens die gleiche. Man hangelt sich chronologisch an vermeintlich wichtigen Stationen des Lebenslaufs entlang. Abschlüsse, Erfolge, Auszeichnungen – Lorbeeren aus allen Lebensabschnitten werden hervorgekramt, um dem Gegenüber ein möglichst schmeichelhaftes Bild davon zu zeichnen, wer man ist.
Je nach Situation beschreibt man sich als Fußballfan, Christ, Mutter, Migrant, Träumer, Alkoholiker oder Philanthrop. In einem Moment sind Sie Vater, im anderen Sohn. Jetzt sind Sie Ehemann und im nächsten Moment Sänger einer AC/DC-Coverband. Eine große Herausforderung für Unternehmen, die bewerten müssen, ob ein bestimmter Job-Kandidat mit seiner individuellen Identität gewinnbringend für die Zukunft des Unternehmens sein wird.
Ein fundamentales Problem zeigt sich gleich zu Beginn des Bewerbungsprozesses. Laut einer Studie der Universität Bamberg weiß die Mehrzahl der Unternehmen gar nicht, wodurch sich ein guter Bewerber auszeichnen muss, um auf einer bestimmten Stelle im Unternehmen erfolgreich zu sein. Da überrascht es nicht, dass selbst im „War for Talents“ mehrheitlich auf althergebrachte Heuristiken in der Bewerberauswahl gesetzt wird.

„Bewerbung“ kommt von „werben“ und nicht von „Tatsachen widerspiegeln“

Noch immer genießt der Lebenslauf bei Personalern einen extrem hohen Stellenwert. 99 Prozent halten ihn für wichtig oder sehr wichtig. Für drei von vier ist es das erste Dokument, das angesehen wird. Und das ist problematisch. Schließlich kommt das Wort „Bewerbung“ von „werben“ und nicht von „Tatsachen widerspiegeln“. Die Bewerbung wird so zu einem auf die Stellenausschreibung zugeschnittenen Marketingdokument.

Dies kann Bewerber auch dazu anleiten, Informationen möglichst schmeichelhaft auszuwählen, zu schönen, wegzulassen oder sogar zu verändern. Übrigens auch ein gängiges Phänomen im (späteren) Bewerbungsgespräch, bei dem offenbar 81 Prozent der Menschen die Unwahrheit sagen.

Früher ebnete ein Doktortitel den Weg ins Top-Management. Damit ist es längst vorbei. Wer heute promoviert, braucht bessere Gründe als die Beförderung der eigenen Karriere.
von Jan Guldner

Doch selbst wenn alle Angaben im Lebenslauf korrekt sind, ist deren Aussagekraft fragwürdig. Ein Grund dafür ist, dass sie sich stets auf die Vergangenheit beziehen und sich daraus nur begrenzt Rückschlüsse auf die zukünftige Leistung und den Leistungswillen ableiten lassen.
Was sagt die Vergangenheit von Angela Merkel als FDJ-Sekretärin über ihre heutige Eignung als Bundeskanzlerin aus? Sind Studienabbrecher wie Bill Gates, Mark Zuckerberg, René Obermann oder Günther Jauch aus heutiger Sicht Kandidaten, die man aussortieren würde? Was verraten die im Lebenslauf aufgeführten Hobbys über uns? Der Lebenslauf verleitet dazu, sich von vermeintlichen Kausalitäten blenden zu lassen.
Mit Blick auf die Zukunft ist der Vergangenheitsbezug des Lebenslaufes sogar noch kritischer zu beurteilen. Wir befinden uns in einer immer weniger vorhersehbaren Welt, in der die exponentielle Veränderung von technologischen, sozioökonomischen und demographischen Rahmenbedingungen zunehmend spürbar wird. Die Veränderung ist derart schnell, dass 50 Prozent des Wissens von Studenten, welches sie sich im ersten Jahr eines vierjährigen technischen Studiengangs aneignen, bereits zum Zeitpunkt ihrer Graduierung veraltet ist.

Und so kann sich der Auswahlprozess in Zukunft nicht mehr (ausschließlich) auf die im Lebenslauf vermittelten, vergangenen Daten fokussieren. Auf welcher Basis sollte das Unternehmen entscheiden, wer zu einem persönlichen Vorstellungsgespräch eingeladen werden sollte und wer nicht?
Hier kommen wir wieder zurück auf die Frage „Wer bin ich?“. Wie wir bereits erfahren haben, wissen Unternehmen mehrheitlich nicht, wodurch sich gute, erfolgversprechende Bewerber auszeichnen. Besonders schwierig wird es natürlich, wenn die Bewerber selbst nicht wissen, was sie auszeichnet – zumindest abseits der üblichen Eckdaten ihres Lebenslaufes.

Quelle: PR

Um dieser Herausforderung zu begegnen, setzen mittlerweile mehr als 60 Prozent der deutschen Großunternehmen Persönlichkeitstest im Recruiting ein. So nutzen Unternehmen wie Microsoft, Lidl, ADAC oder Merck zum Beispiel die Technologie von Matching Box, dessen Gründer Benjamin Pieck zuvor einen Matching-Algorithmus für ein großes Dating-Portal mitentwickelte.

Normalerweise suchen Bewerber im ersten Schritt passende Unternehmen aus und bewerben sich dann auf eine entsprechende Stelle. Mit Hilfe des Matching-Algorithmus wird dieser Prozess auf den Kopf gestellt. Denn hier erfolgt zunächst eine Persönlichkeitsanalyse, um Persönlichkeitstypen, Soft-Skills und Interessen abzuleiten. Und auf dieser Basis werden dem Bewerber im Anschluss automatisch passende Unternehmen und Positionen vorgeschlagen. Passt der Bewerber nun auch in den Kriterienkatalog des entsprechenden Unternehmens ist das „Match“ perfekt. Happy End! Oder?

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