Die Karriere von Reinhard Wetter zerbricht an einem Wintermorgen. Schnee fällt in kleinen Flocken vom Himmel, als eine Heerschar Polizisten vor einer Jugendstilvilla im Frankfurter Stadtteil Sachsenhausen hält. Hier residiert die Firmengruppe S&K. Wetter, der eigentlich anders heißt, hat als Vertreter S&K-Immobilienfonds verkauft. Die Firmengründer, so der Verdacht der Ermittler, sollen mit rund 240 Millionen Euro Anlegergeld nicht nur in Immobilien, sondern auch in ihr persönliches Luxusleben investiert haben.
Der Wintertag im Jahr 2013 lässt nicht nur die Machenschaften der S&K-Chefs auffliegen, die in Untersuchungshaft kommen und schließlich 2017 zu jeweils achteinhalb Jahren Haft verurteilt werden. Er hinterlässt auch tiefe Spuren im Leben von Mitarbeitern wie Reinhard Wetter. Sie verlieren ihren Arbeitsplatz und, fast noch schlimmer, ihren guten Ruf. Die Episode S&K in ihren Lebensläufen liest sich wie der Verdacht, ein Verbrecher zu sein oder zumindest von den Straftaten gewusst zu haben. Viele von Wetters früheren Kollegen haben auf ihren Xing-Profilen den Namen ihres Exarbeitgebers gelöscht. Jahrelang habe sie wegen zweier Buchstaben keinen Job gefunden, berichtet eine ehemalige Mitarbeiterin. „Mein persönlicher Imageverlust war riesig“, bestätigt Wetter, „in der Finanzbranche konnte ich nicht mehr arbeiten.“
Die Wirtschaftswelt ist voller Skandale und Eskapaden. Den jüngsten Beleg dafür brachte der Fall Wirecard: Das Unternehmen, das lange Zeit von Aktionären wie Politikern gefeiert wurde, konnte selbst nach langen Verzögerungen keine Nachweise für längst verbuchte Umsätze in Milliardenhöhe liefern. Mittlerweile ist der einstige Börsenstar insolvent, gegen das Top-Management ermittelt die Staatsanwaltschaft wegen Verdachts auf Bilanzfälschung, Marktmanipulation und Betrug.
Es dauert kaum länger, eine Liste bekannter Firmennamen zusammenzutragen, die in ähnlicher Art Kunden, Konkurrenten oder den Staat geschädigt haben – und die dafür am Pranger der Öffentlichkeit landeten. Volkswagen und ein großer Teil der deutschen Autoindustrie kämpfen mit der Manipulation von Dieselabgaswerten. Die Commerzbank und andere Geldinstitute brachten sich mit Cum-Ex- und Cum-Cum-Steuertricks in Verruf. Die Pleitebank Lehman Brothers gilt als Inbegriff der Finanzkrise.
Für die Firmen bedeuten diese Skandale, dass Regulierungen verschärft und Strafzahlungen verhängt werden, dass einige Firmen gar um ihre Existenz kämpfen müssen. Doch auch die Karrieren der Mitarbeiter sind gefährdet. Wer einmal unter einem korrupten Chef gedient oder an einer betrügerischen Organisation beteiligt war, kann dadurch stigmatisiert werden – auch wenn er selbst keine Schuld auf sich geladen hat. Markus Braun, der als Vorstandsvorsitzender den Skandal bei Wirecard maßgeblich mitzuverantworten hatte, weist im Karrierenetzwerk LinkedIn noch stolz auf seine 18 Jahre im Unternehmen hin. Von Mitarbeitern, die niedriger in der Hierarchie angesiedelt waren, hört man eher das Gegenteil. Sie löschen ihre Zeit beim Unternehmen aus dem Profil, nach dem Motto: Lieber eine Lücke als Wirecard im Lebenslauf.
Neue Studien zeigen, warum der gute Ruf so wichtig ist. Was passiert, wenn er ruiniert ist. Und wie man sein angekratztes Ansehen wieder aufpolieren kann. Dazu muss man zunächst den Wert eines guten Leumunds verstehen. Und wie rasant dieser Wert gestiegen ist, seit der gesamte professionelle und private Werdegang in Internetportalen einsehbar ist. „Soziale Informationen über uns gibt es mittlerweile zuhauf“, sagt die Philosophin Gloria Origgi, „Menschen müssen realisieren, dass sie dieses symbolische Kapital überhaupt haben, und lernen, es zu nutzen.“
Origgi ist Forschungsdirektorin am französischen Institut Jean Nicod und lehrt an der EHESS, einer Pariser Elitehochschule für Sozialwissenschaften. In ihrem aktuellen Buch „Reputation“ geht sie der Frage nach, wie ein guter oder schlechter Ruf entsteht und warum er in vielen Lebensbereichen eine so bedeutende Rolle spielt. Sie empfiehlt eine bewusstere Beschäftigung mit dem Thema Reputation. Dazu gehöre auch, dass man sich nicht nur als Mensch mit einem fremdbestimmten Lebenslauf begreife, sondern sich Arbeitgeber auch nach deren Ruf aussuche. Jeder Mensch werde so zu einer kleinen Marke. „Zu welchem Arbeitgeber man geht“, so Origgi, „wird damit zu einer Frage der persönlichen Markenführung.“
Für die Philosophin umgibt die Reputation jeden Menschen wie eine Blase. Darin schweben Dinge, die eine Person aus sich selbst heraus definieren: der Charakter, die Bildung oder das Verhalten. Die Blase ist aber auch für Einflüsse von außen offen. Mit jeder Interaktion können sich neue Eigenschaften an das eigene Ansehen heften. Durch Freunde oder Verwandte, durch den Sportverein oder die Partei. „Reputation färbt ab“, sagt Origgi, „sie geht vom Kollektiv auf das Individuum über.“ In Bezug auf die Berufswahl heißt das: Der Arbeitgeber formt immer auch den Ruf seiner Angestellten. Im Guten wie im Schlechten. „Eine skandalgebeutelte Firma zu verlassen macht einen nicht völlig frei von ihrem Makel“, so die Philosophin. Das gelte auch dann, wenn man selbst keine Verantwortung getragen habe.
Was Headhunter raten: So gehen Sie mit Misserfolgen um
„Ob Schauspieler, Schriftsteller oder Maler – wer Großes geschaffen hat, erzählt auch immer eine Geschichte von Versuch und Irrtum. Warum also nicht selbstbewusst dazu stehen, dass man etwas ausprobiert hat? Jeder Misserfolg ist zugleich ein Lernerfolg. Gestehen Sie sich ein, dass etwas gescheitert ist. Ziehen Sie die richtigen Schlüsse und zeigen Sie, dass Sie es beim nächsten Mal besser gemacht haben. Man kann auch erfolgreich scheitern. Wenn man weiß, wann es Zeit ist, seine Entscheidung zu korrigieren.“
„Lügen haben kurze Beine: Versuche, Flops aufzuhübschen, zu kaschieren oder ganz unter den Tisch fallen zu lassen, sind zum Scheitern verurteilt. Seriöse Personalberater und auch viele Personalverantwortliche holen Referenzen bei vorherigen Arbeitgebern ein – spätestens dann kommen Sie in Erklärungsnot und sind schlimmstenfalls von der aktuellen oder auch künftigen Besetzungen ausgeschlossen. Deshalb bleiben Sie besser bei der Wahrheit. Außerdem sollten Sie Karriere-Knicke im Jobinterview am besten direkt und aktiv ansprechen. Dabei haben Sie Gelegenheit, zu erklären, wie Sie mit der Situation umgegangen sind und welche Lehren Sie daraus gezogen haben. Im schriftlichen Lebenslauf dagegen genügt die Angabe der betreffenden Station – eine Erklärung würde hier unbeholfen wirken und zu sehr wie eine Rechtfertigung wirken.“
„Ich rate vor allem zu Ehrlichkeit – und zwar sowohl im eigenen Umgang mit einem Misserfolg und der eigenen Analyse als auch in Bezug auf die Darstellung. Nur wer ehrlich zu sich ist, kann den Misserfolg reflektieren und daraus lernen. Und nur wer den Misserfolg ehrlich und nachvollziehbar schildert, signalisiert diese Lernfähigkeit. In Bewerbungsanschreiben ist es in Ordnung, den Abschied von einem Arbeitgeber zunächst mit Floskeln wie ‚strategische Differenzen‘ zu umschreiben. Im persönlichen Gespräch hingegen sollte man so konkret wie möglich werden – und so ehrlich sein, dass der Misserfolg nachvollziehbar, schlüssig und glaubwürdig ist.“
Ronald May kennt diese Wirkung aus seinem Netzwerk. Er ist Gründer und Geschäftsführer der Personalberatung FMT International und sucht Kandidaten für Spitzenpositionen in Unternehmen, insbesondere der Automobilindustrie. „Es reicht der Verdacht, etwas von einem Skandal gewusst zu haben, um den Ruf zu beschädigen“, sagt May. Grund dafür sei auch eine neue Transparenz, die überhaupt erst die Bedingungen dafür schaffe, dass so viele Skandale an die Öffentlichkeit gelangten. Früher hätte man auch mal Stillschweigen über die Probleme der Vergangenheit vereinbart oder, falls das nicht möglich war, zumindest gehofft, Teile der Arbeitsbiografie verstecken zu können. Heute sorgen die digitalen Gedächtnisse von Google und Facebook dafür, dass man ein lückenlos durchsichtiger Kandidat ist.
Dennoch: „Wird man mit einem Skandal in Verbindung gebracht, ist die Karriere nicht hoffnungslos gescheitert“, sagt May, „man muss aber vielleicht ein, zwei Schritte zurückgehen, um neu anzugreifen.“ Heißt konkret: Der frühere Bereichsvorstand eines Großkonzerns bekommt bei einem Mittelständler erst mal nur einen Posten unterhalb der Vorstandsebene. „Das hat natürlich Einschnitte beim Gehalt zur Folge“, sagt May.
Ein Ausweg: fliehen, sobald in der Firma etwas grundlegend schiefläuft
Wie sehr es wechselwillige Führungskräfte finanziell schmerzt, wenn der tadellose Ruf durch einen Skandal in der Vita beschmutzt wird, zeigt eine aktuelle Studie des Harvard-Professors Boris Groysberg. Zusammen mit zwei Kollegen untersuchte er den Datensatz eines Beratungsunternehmens, das Führungskräfte für Unternehmen sucht und vermittelt. Die Forscher betrachteten mehr als 2000 Jobwechsel. Vor allem analysierten sie, ob sich im Lebenslauf eines Kandidaten ein Unternehmen fand, das wegen finanziellen Fehlverhaltens auffällig wurde – und dessen Skandal erst die Öffentlichkeit erreichte, nachdem der Kandidat schon bei einem anderen Arbeitgeber untergekommen war. Damit wollten die Ökonomen sicherstellen, dass ihre Probanden nicht für potenzielle Vergehen verantwortlich waren.
Das Ergebnis dürfte alle rechtschaffenen Manager erschrecken: Selbst wenn ein Skandal erst nach dem Jobwechsel publik wurde, entwickelte sich der Name der Skandalfirma in der Vita zum geldwerten Nachteil. „Stigmatisierung durch Assoziierung“ nennen die Forscher diesen Effekt. Im Durchschnitt bekam die betroffene Führungskraft beim Wechsel vier Prozent weniger Gehalt als ihre makellosen Kollegen. Und da die zukünftige Bezahlung stark von der Vergütung beim Einstieg abhänge, wirkt sich dieser Effekt auf die gesamte Lebenszeit aus, so die Autoren.
Woher rührt diese moralische Ansteckungsgefahr? Die Forscher sehen die Ursache dafür auch im menschlichen Gehirn und dessen Hang zur Arbeitsvermeidung: Um Bewerbungen möglichst effizient abzuarbeiten, benutzen Personaler bei der Beurteilung unbekannter Bewerber kognitive Abkürzungen. Anstatt sich wirklich mit einer Person zu beschäftigen und zu verstehen, was sie tatsächlich im Verlauf ihrer Karriere getan hat und was nicht, schauen Recruiter auf die Namen der Firmen im Lebenslauf – und stricken sich aus diesen bekannten Größen ein Bild, das mit der Realität nicht immer übereinstimmt. So können sich fragwürdige Kandidaten mit guten Referenzen einschleichen - oder tadellose Bewerber zu Unrecht stigmatisiert werden.
Headhunter, die gezielt Personal suchen, setzen sogar ganz bewusst auf diese Art der Auswahl. Die Personalberaterin Sabine Märten etwa besetzt Fach- und Führungspositionen für Finanz- und Immobiliendienstleister. Bekommt sie einen neuen Suchauftrag, fertigt sie Listen an mit Firmen, bei denen potenzielle Kandidaten arbeiten könnten – und „Firmen ohne guten Ruf kommen gar nicht erst darauf“, sagt Märten.
Das liege auch daran, dass ihre Kunden das Thema Ethik wichtig nehmen. „Als Geschäftsführer kann man ein Unternehmen nicht alleine in die moralische Verwerflichkeit lenken“, meint die Beraterin. Auch auf zweiter und dritter Ebene, also dort, wo Entscheidungen umgesetzt würden, seien die Standards in einem solchen Betrieb entsprechend niedrig. „Das sind dann entweder Leute, die es nicht so genau nehmen oder die zu zaghaft sind, sich zu wehren oder sich etwas Neues zu suchen“, so Märten.
Eine Studie aus dem Jahr 2008 von Managementforschern um Matthew Semadeni, der heute an der Arizona-State-Universität forscht, zeigt Mitarbeitern einen möglichen, wenn auch egoistischen Ausweg: fliehen, sobald man sieht, dass in der eigenen Firma etwas schiefläuft. Ist der Schaden bereits entstanden, ist es vor allem ratsam, richtig zu kommunizieren. „Wer aus einem gescheiterten oder skandalbehafteten Unternehmen kommt, befindet sich immer in einer Rechtfertigungssituation“, sagt Jürn-F. Konitzer, der als Outplacementberater Führungskräften beim Jobwechsel hilft, „es kommt vor allem darauf an, wie man damit umgeht.“ Schlecht sei, jedem sofort erzählen zu wollen, dass und warum man unschuldig sei. „Da geht die Souveränität verloren“, sagt Konitzer. Genauso schlecht: still hoffen, dass sich das Thema erledigt. Stattdessen brauche man ein Drehbuch, um einem zukünftigen Arbeitgeber auf Nachfrage kurz und knapp zu erklären, warum man für Probleme bei früheren Arbeitgebern keine Verantwortung trage.
Über eines, so die Philosophin Gloria Origgi müsse man sich aber immer im Klaren sein: „Man kann die eigene Reputation nie vollständig steuern.“ Umso wichtiger also, dass man den Teil kontrolliert, den man kontrollieren kann.