Karriere und Moral Wie viel Teufel steckt in Ihnen?

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Die Erosion der Moral beginnt im System, wenn Vorstände und Analysten die Messlatten für den Erfolg immer höher legen. Obwohl auch die Hälfte der Zielvorgabe ausreichen würde, definieren sie gigantische Renditeziele, die Aufmerksamkeit in den Medien bringen. Immer mehr Umsatzsteigerungen sollen mit immer weniger Mitarbeitern erzielt werden. Das Problem ist nur, dass der Weg dorthin den Managern der nachfolgenden Ebenen überlassen bleibt. Die rackern sich ab, geben ihr Bestes und – wenn das nicht reicht, dann greifen sie in die Trickkiste. Heraus kommt oft schwarze Magie. Oder eben schwarze Kassen wie bei Siemens, riskante Spekulationsgeschäfte wie bei den Landesbanken Sachsen LB und WestLB, Samba tanzende Betriebsräte bei Volkswagen oder zwielichtige Vertriebspraktiken bei Ratiopharm. Jenseits der smarten Unternehmenskommunikation und hinter den Kulissen der Corporate Governance rumort es gewaltig, wie eine exklusive Umfrage für die WirtschaftsWoche belegt. Jede zweite Führungskraft beklagt inzwischen mehrmals im Jahr ein schlechtes Gewissen im Job. Immer öfter leiden die befragten Team-, Abteilungs- und Bereichsleiter sowie Geschäftsführer darunter, dass sie bei betrieblichen Entscheidungen ihre persönlichen Wertvorstellungen über Bord werfen müssen. Jeden zehnten Manager quält das schlechte Gewissen sogar einmal pro Woche. Das hat die Düsseldorfer Personalberatung Lachner Aden Beyer & Company Consultants (LAB) im Rahmen einer deutschlandweiten Befragung von 265 Managern herausgefunden – die von teilweise schockierenden Zitaten begleitet ist: „Ich neige dazu, die Dinge so zu machen, wie sie vorgelebt werden — Hauptsache die eigene Tasche kommt dabei gut weg“, gesteht einer der Befragten. Oder: „Ehrlichkeit und Geradlinigkeit sind hier geradezu hinderlich für die Karriere.“ Oder: „Gewissenloses Handeln ist bei uns längst Routine.“ Deutschland, Land der Opportunisten.

An sich ist es ganz normal, dass sich mit der Zeit die Maßstäbe verschieben, Bedenken abschleifen und Werte umdefiniert werden, weil jeder einen „Reifungs- und Realitätsanpassungsprozess durchlebt“, sagt Michael Kastner, Organisationspsychologe an der Universität Dortmund. Zu Schulzeiten und am Studienanfang scheint alles noch ganz einfach zu sein. Doch mit dem Alter und im Job stellen die Leute fest, dass es im Leben nicht nur Schwarz und Weiß gibt, sondern mehrheitlich Kompromisse. Die Handlungsoptionen werden facettenreicher, die Welt wird dadurch aber auch grauer. Mit den rigiden Moralvorstellungen der Jugend kommt keiner mehr weiter. Das aber vergrößert zugleich das Risiko eines Fehltritts. „Lebenserfahrung verleitet dazu, dass man glaubt, gute Gründe zu haben, um sein unmoralisches Handeln zu entschuldigen“, sagt der Tübinger Philosophieprofessor Otfried Höffe. Jeder wisse, dass er — wie jeder Mensch — „schwache Momente hat“. Nobody is perfect. Warum einen Vorteil ausschlagen? Wieso verzichten? Der Ehrliche ist doch sowieso immer der Dumme. Natürlich sind das Ausreden. Trotzdem reagieren die meisten Menschen auf solche Rechtfertigungsversuche immer gleich: Sie nehmen sie zur Kenntnis. Und das war’s. Dabei ist der Ehrliche selten der Dumme, häufiger ist es der Ignorant. Wer nicht zum Schwein werden will, braucht ein starkes Rückgrat von Anfang an. Jeder Fehltritt erleichtert den nächsten. Denn in der Rückschau verklärt sich das Fehlverhalten oft zur Lappalie, weil die menschliche Erinnerung „selbstreferenziell arbeitet“, sagt Organisationspsychologe Kastner. Unser Gedächtnis ist keineswegs das verlässliche Archiv, für das wir es gerne halten. Vielmehr vermischen wir beim Memorieren häufig Erfahrungen mit Erlebnissen, die wir gar nicht selbst gemacht haben. Unser Gehirn wählt Eindrücke aus, ergänzt sie, formt sie neu, und zwar so, wie es für das Überleben in einer komplexen Welt nützlich ist. So hat das, was wir erinnern, oft extrem wenig mit der Vergangenheit zu tun. Weil wir aber keinen inneren Lügendetektor besitzen, werden unsere Untaten so im Laufe der Zeit immer richtiger – „bis daraus neue Wahrheiten entstehen“, sagt Experte Kastner. Gier ist dabei die größte Versuchung. Sozialneid und Statusdenken treiben Menschen in die Verfehlung, wenn es um ein ansehnlicheres Büro geht oder ein repräsentativeres Auto. Ein bisschen Gier ist noch harmlos, stachelt vielleicht sogar an und weckt bei den Betroffenen Ehrgeiz und Kreativität; ein bisschen zu viel, und es wirkt mörderisch. Die Leute sehen dann nur noch den Reichtum ihrer Kollegen, ihrer Kunden und ihrer Nachbarn. Sie wollen mithalten und auch ein Stück vom Kuchen abhaben. Erst nur eins, dann immer mehr. So übertragen viele die Glorifizierung des Unternehmenswachstums unbewusst auf die eigene Karriere und die eigenen Ansprüche. Der Bonus, den einer gestern erst bekommen hat, ist morgen schon Teil seines Anspruchs, den er nächstes Jahr steigern muss – mehr Gehalt, mehr Mitarbeiter, mehr Verantwortung, mehr Budget. Mehr. Mehr. Mehr. „Wer gierig ist, wird Sklave eines Triebs, der den Verstand ausschaltet“, erkannte Psychoanalytiker Sigmund Freud.

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