Ständig sind wir auf der Suche nach der Anerkennung anderer Menschen. Wir wollen möglichst perfekt sein: selbstbewusster Auftreten, die eigene Meinung auch gegen Widerstände verteidigen, nur keine Schwäche zeigen. Dabei ist es normal, an sich zu zweifeln und manchmal auch notwendig, um das eigene Potenzial zu entfalten. Doch bei vielen Menschen wird daraus ein Selbstzweifel, der so stark ist, dass er Leben und Arbeitsalltag maßgeblich beeinflusst.
Eng verbunden mit einem fehlenden Selbstbewusstsein, ist auch das Gefühl, minderwertig zu sein. Nicht selten kompensieren das Betroffene mit einem starken Verlangen nach Anerkennung, aber auch mit starker Eitelkeit - nicht unbedingt positiv besetzte Eigenschaften.
Der sogenannte Minderwertigkeitskomplex führt laut Jörg Wittgen, Wirtschaftspsychologe und Managementberater, im Beruf zu häufigen Übertreibungen. Menschen, die betroffen sind, kommen oft als erste ins Büro und bleiben abends länger. "Jemand mit Selbstzweifeln sagt selten Nein zu zusätzlichen Aufgaben und beschwert sich kaum", beobachtet der Experte.
Was bei der Arbeit stresst
Was sorgt im Büro für Stress? Der Personaldienstleister Robert Half hat im höheren Management nach den wichtigsten Gründen gefragt. Dabei gaben 18 Prozent der Befragten zu viel Verantwortung oder ständiges an die-Arbeit-denken auch in der Freizeit als Grund für Stress bei der Arbeit an. Nur in Tschechien können die Beschäftigten außerhalb des Arbeitsplatzes schwerer abschalten - dort gaben 28 Prozent an, dauernd an die Arbeit denken zu müssen. Auf der anderen Seite der Skala ist Luxemburg: nur fünf Prozent haben dort dieses Problem.
Keinen Stress haben dagegen nur sieben Prozent der deutschen Befragten. Genauso niedrig ist der Anteil derer, die ihren aktuellen Job nicht mögen.
Unangemessener Druck vom Chef nannten 27 Prozent der Befragten hierzulande als Stressgrund. In Brasilien sind es dagegen 44 Prozent.
Wenn der Chef sich eher um sein Handicap kümmert, statt ordentlich zu führen: 28 Prozent der Befragten sind mit der Managementfähigkeit des Chefs unglücklich. Das Unvermögen des führenden Managers, das zu Stress führt, scheint in Luxemburg relativ unbekannt zu sein - nur 11 Prozent der Befragten sind dort mit den Befragten unglücklich, in Dubai sind es gar neun Prozent.
Dass unangenehme Kollegen oder fieser Büroklatsch zu Stress führen kann, ist allgemein bekannt. Dementsprechend führen auch 31 Prozent der Befragten das als Stressgrund an - der Anteil derer, die das ähnlich sehen, liegen in allen anderen Ländern fast gleich hoch - außer in Brasilien: 60 Prozent der Befragten geben unangenehme Kollegen und fiesen Büroklatsch als Stressgrund an.
Ein weitere Stressgrund: personelle Unterbesetzung. 41 Prozent der Befragten sehen das als wichtigen Grund für Stress bei der Arbeit an - ein Wert, der fast in allen Ländern ähnlich ist.
Doch am problematischsten, laut der Studie: die hohe Arbeitsbelastung. 51 Prozent der Befragten gaben dies als Stressgrund an. Deutschland liegt damit im Schnitt, auch in den anderen elf Ländern ist ein ähnlich hoher Anteil der gleichen Meinung.
Das kann in bestimmten Fällen zu einer Beförderung führen, weil sich die Mühe auszahlt. Wittgen aber warnt, dass Menschen mit Komplexen dann die damit verbundenen Anforderungen eventuell nicht erfüllen und umso größer scheitern könnten.
Gesellschaftliche Akzeptanz für Fehler fördern
Auch sozialer Druck kann Minderwertigkeitskomplexe bei Individuen begünstigen. Wer Angst vor dem Versagen und keinen Rückhalt hat, ist für steten Zweifel besonders anfällig. Er fühlt sich schnell, als würde er scheitern - auf ganzer Linie.
Das Scheitern gesellschaftlich zu entstigmatisieren, ist Ziel der Macher der Fuck-Up-Nights (FUN), einer Bewegung, die 2012 in Mexiko gestartet wurde und durch die ganze Welt ging. Die Vortragsreihe, bei der Menschen aus Wirtschaft, Politik und Gesellschaft ihre Erfahrungen des Misslingens einem Publikum mitteilen, findet unter folgendem Motto statt: Sometimes You Win. Sometimes You Learn.
Fünf Tipps zur Stressbewältigung
Sagen Sie auch mal „Nein“. Haben Sie gerade keine Kapazitäten für eine neue Aufgabe oder ein Projekt, sagen Sie frühzeitig Bescheid. Selbstverständlich gibt es Situationen, in denen Sie mit „Ja“ antworten müssen. Aber vielleicht hat ein Kollege gerade mehr Zeit oder die Aufgabe ist doch nicht ganz so dringend.
Niemand ist perfekt, stellen Sie daher keine zu hohen und unrealistischen Erwartungen an sich selbst. Damit blockieren Sie sich nur.
Identifizieren Sie die Auslöser. Jeder Mensch gerät durch andere Dinge unter Druck. Um einen Überblick zu behalten, hilft es, sich eine Liste mit seinen persönlichen Stressfaktoren anzulegen. Stört Sie zum Beispiel das ständige „Pling“ eingehender E-Mails, stellen Sie den Computer auf lautlos und bestimmen Sie einen festen Zeitraum, in dem Sie Mails beantworten.
Stress zu unterdrücken, ist auf lange Sicht keine Lösung. Früher oder später wird er wieder hochkommen. Um das zu vermeiden, sprechen Sie darüber mit einem Kollegen und beziehen Sie auch ihren Chef mit ein. Allein das Gefühl, aktiv etwas gegen den Stress zu tun, hilft bei der Bewältigung.
Machen Sie Sport – Bewegung ist eine gute Methode, um Stress entgegenzuwirken, denn durch Sport werden Glückshormone wie Dopamin ausgeschüttet.
Im Alltag hilft schon ein kurzer Spaziergang zur Kantine oder morgens eine Station früher auszusteigen und den restlichen Weg zur Arbeit zu laufen. Nehmen Sie die Treppe statt den Aufzug und laufen Sie zum übernächsten Drucker statt zum nächstgelegenen.
In Deutschland sprachen bereits Persönlichkeiten wie der FDP-Vorsitzende Christian Lindner und bekannte Internetunternehmer wie die Samwer-Brüder von ihren Misserfolgen. Laut Ralf Kemmer, Mitinitiator von FUN und Lehrender an der Design Akademie Berlin, gibt es in Deutschland eine geringe Fehlertoleranz. "Die Deutschen sind sehr ergebnisfokussiert und somit weniger flexibel", sagt er.
Das belegen Forschungen des Wirtschaftspsychologen Michael Frese von der Leuphana-Universität Lüneburg, die Deutschland und Singapur auf die letzten Plätze setzen, wenn es um eine gesellschaftliche Akzeptanz des Scheiterns geht. Am lockersten, insbesondere bei unternehmerischen Fehlern, sind die US-Amerikaner, die dabei eine Möglichkeit sehen, für die Zukunft dazuzulernen.
Nobody's perfect
Henriette Runge ist Mitorganisatorin bei den Fuck-Up-Nights und arbeitet im sonstigen Leben unter anderem im Musikmanagement. Sie bestätigt das deutsche Stigma beim Thema Scheitern und sagt: "Eine Fehlervermeidungskultur entsteht oft, wenn in einer Gesellschaft Unsicherheiten verpönt sind. Das scheint verbreitet zu sein in Kulturen, in denen das Individuum wichtiger ist als die Gesellschaft."
Runge hat sich schon viele Vorträge angehört, richtig bewegt wurde sie von der Rede von Jeanine Thorpe. Die einst als Wunderkind geltende Violinistin sah sich - als sie schließlich Konzertmeisterin wurde - mit so starken Panikattacken konfrontiert, dass sie nicht mehr weiterspielen konnte.
Umgang mit Minderwertigkeitskomplexen
Jörg Wittgen ist überzeugt: Ein solcher Komplex muss mit einer Therapie überwunden werden, denn er "kommt nicht plötzlich irgendwo her, sondern ist mit Prägungsmomenten aus der Kindheit verbunden." Er sagt, dass man Minderwertigkeitskomplexe bei Kollegen oder Angestellten am besten mit häufigem Lob und positivem Feedback begegnet. Allerdings ist das Loben eine Disziplin für sich - und nur wenige Chefs können das richtig gut: Es kommt vor allem darauf, dass Chefs den Mitarbeiter persönlich loben sollten - nicht über Dritte und nicht über E-Mail. Hinzukommt, dass das Lob kein Mittel zum Zweck sein sollte, sondern immer ehrlich und aufrichtig. Mitarbeiter spüren es, wenn Chefs nur loben, um dafür etwas herauszuschlagen. Führungskräfte sollten aber auch deutlich machen, wenn ihnen etwas missfällt.
In acht Schritten zum Burn-Out
Es beginnt alles mit dem Wunsch, sich zu beweisen. Dieser aber treibt einen in den Zwang, sich noch mehr anzustrengen, noch mehr zu leisten bzw. es allen recht zu machen. Man nimmt jeden Auftrag an, sagt immer seltener Nein. Jettet von Termin zu Termin. Und nimmt abends Arbeit mit nach Hause.
(Quelle: Lothar Seiwert, Zeit ist Leben, Leben ist Zeit)
Man nimmt seine eigenen Bedürfnisse nicht mehr wahr. Schläft zu wenig, isst hastig oder gar nichts. Sagt den Kinobesuch mit Freunden ab.
Man missachtet die Warnsignale des Körpers, wie Schlafstörungen, Verspannungen, Kopfschmerzen, hoher Blutdruck, flaches Atmen, Konzentrationsschwäche.
Um wieder funktionieren zu können, greifen manche zu Drogen wie Schmerzmitteln, Schlaftabletten, Alkohol, Aufputschern.
Das eigene Wertesystem verändert sich. Die Freunde sind langweilig, der Besuch mit dem Kollegen im Café verschwendete Zeit. Die Probleme mit dem Partner oder Familie nimmt man einfach nicht mehr wahr. Man zieht sich zurück aus gesellschaftlichen Kontakten. Und endet oft in völliger Isolation.
Die Persönlichkeit verändert sich. Alles dreht sich nur noch darum, zu funktionieren, zu arbeiten. Gefühle und Emotionen werden verdrängt. Man verliert den Humor, reagiert mit Schärfe und Sarkasmus, empfindet Verachtung für Menschen, die das Faulsein genießen. Man verhärtet.
Man verliert das Gefühl für die eigene Persönlichkeit. Spürt nur noch Gereiztheit, Schmerzen, Erschöpfung, Überlastung, Angst vor einem Zusammenbruch. Und sonst nichts mehr. Keine Freude, keine Fröhlichkeit, keine Neugierde. Der Mensch funktioniert wie eine Maschine. Die Seele erstarrt.
Die wachsende innere Leere, genährt von dem Gedanken "Wenn ich nicht arbeite, was bin ich dann?", führt zur Depression, zur völligen Erschöpfung, zum Zusammenbruch, zum Ausgebranntsein.
Henriette Runge möchte das Scheitern vor allem gesellschaftlich enttabuisiert sehen. "Manager - und viele andere Menschen im Berufsleben - sollten Fehler viel stärker thematisieren und entstigmatisieren." Dabei geht es ihr nicht um eine endlose Fehlertoleranz sondern um eine bessere Fehlerkultur und einen gesünderen Umgang mit Misserfolgen. Das Scheitern sieht Runge als Teil des Lernprozesses, denn, so sagt sie: "Nobodyˋs perfect - und niemand muss es sein."