Erkenne dich selbst Warum so viele Manager auf Self-Awareness setzen

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Gefangen in den eigenen Erfahrungen

Der Autor und Psychologe Daniel Goleman hat die Selbstwahrnehmung als Grundlage für emotionale Intelligenz bezeichnet – eine Fähigkeit, die zu größerer Zufriedenheit und Leistungskraft im Job führt und die eigene Führungsfähigkeit erhöht. Johannes Lober kennt die positiven Effekte. Er ist Geschäftsführer am Institut für Philosophie und Leadership der Münchner Hochschule für Philosophie. Dort erforscht er, wie Führungskräfte ihre Selbstwahrnehmung steigern können, und gibt seine Erkenntnisse in Workshops weiter.

„Unsere Wahrnehmung ist normalerweise geprägt von Erfahrungen und Erlebnissen“, sagt Lober. Sie legten sich wie ein Filter über unsere Wahrnehmung. Das helfe oft, schneller und intuitiver zu entscheiden. Doch mit jeder prägenden Erfahrung entsteht eine zusätzliche Filterschicht, die den Blick auf die Realität weiter verzerrt. So hat jeder Mensch ein ganz eigenes Bild von der Welt und seiner Rolle in ihr.

Oder wie Johannes Lober sagt: „Wir laufen Gefahr, Gefangene unserer Erfahrungen zu werden.“ Wer sich wichtige Unternehmensentscheidungen alleine durch diese Brille anschaut, kann daher schnell falschliegen. In einer Zeit, in der kein Geschäftsmodell davor gefeit ist, durch digitale Konkurrenz von heute auf morgen zerstört zu werden, verlieren Erfahrungen an Wert.

Das zu erkennen ist für seine Seminarteilnehmer schon die erste Hürde, so Lober. „Jeder denkt natürlich, dass er die Welt ohne einen solchen Filter sieht.“ Lernt man sich aber besser kennen, kann man den Filter analysieren, Schicht für Schicht wieder abtragen und feststellen, welche Spuren die Erfahrung in der Wahrnehmung der Welt hinterlassen hat – und welche nicht.

Der Softwarekonzern SAP bietet seinen Mitarbeitern dabei sogar Hilfestellung an. Verantwortlich dafür ist Peter Bostelmann. Er arbeitet für SAP im Silicon Valley und trägt den eigenwilligen Titel Director Global Mindfulness Practice. Er hat firmeneigene Workshops in Achtsamkeit konzipiert, die 2017 mehr als 6000 SAP-Mitarbeiter absolviert haben. Unter Achtsamkeit versteht er, die eigenen Gedanken gezielt zu lenken. „Mit unseren Trainings fördern wir die Aufmerksamkeit und die Selbstwahrnehmung unserer Mitarbeiter“, sagt Bostelmann.

In der Realität sieht das so aus: Eine Gruppe von SAP-Angestellten versammelt sich, um gemeinsam, schweigend und mit geschlossenen Augen Bostelmanns Stimme zu lauschen. Er lenkt die Aufmerksamkeit auf den Atem – immer wenn die Gedanken der Achtsamkeits-Schüler abdriften, sollen sie sich darauf zurückbesinnen.

„Es handelt sich hier nicht um esoterisches, spirituelles Voodoo“, sagt Bostelmann. Die Techniken seien pragmatisch und hilfreich. Sie führten dazu, dass man der eigenen emotionalen Reaktionen auf bestimmte Reize schneller gewahr werde. Nur dann habe man die Möglichkeit, sie auch im Moment der Reaktion zu hinterfragen, statt ihnen automatisch zu folgen.

Solche Automatismen hat auch ProGlove-Gründer Thomas Kirchner an sich entdeckt. Zum Beispiel hat er früher aus Unsicherheit oft sehr defensiv auf Kritik reagiert, aus Angst, er sei nicht gut in dem, was er tue. Beobachtet er eine ähnliche Reaktion heute bei einem Mitarbeiter, den er gerade kritisiert hat, hat er daher viel mehr Verständnis.

Diese Erkenntnisse gewinnt er nicht nur beim Meditieren, sondern auch, wenn er seiner Mitbewohnerin Lotte am Küchentisch von seinem Tag erzählt. Dann fällt ihm manchmal auf, dass er besonders lange von etwas berichtet, das ihm gar nicht so wichtig erschien. Alleine die Tatsache, dass er zehn Minuten über einen Vorfall spricht, beweist ihm aber das Gegenteil.

Diese Sensibilität ist ihm auch bei seinen rund 70 Mitarbeitern wichtig. Vor Feedback-Gesprächen mit einem bestimmten Angestellten sollen deshalb direkte Kollegen einen Fragebogen zu dessen Arbeitsweise ausfüllen. Im Gespräch wird dann als Erstes Fremd- mit Selbstwahrnehmung verglichen – weichen sie stark voneinander ab, versucht man, die Ursachen dafür zu finden.

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