Auswertung von Chef-Kalendern CEOs verbringen drei Viertel ihrer Zeit mit Meetings

Ständig auf Sendung: Vor lauter Mails und Meetings finden Manager kaum Zeit zum Nachdenken Quelle: Illustration: Leander Aßmann

Zwei Managementforscher werten für eine Studie die Kalender von 27 Topmanagern aus und erhalten einen Einblick in 60.000 Stunden Managerleben. Über das Ausmaß der Zeitverschwendung können sie nur staunen.

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Dutzende von Investoren. Tausende von Angestellten. Millionen von Kunden. Und Milliarden an Unternehmenswert. Wären Sie gerne für all das verantwortlich? Könnten Sie einen Weltkonzern als dessen wichtigster Vertreter nach innen und außen repräsentieren, den Überblick behalten über Zahlen, Personal und Strategie, heute schon für morgen planen, das Klein-Klein ebenso im Auge behalten wie das große Ganze, nicht nur mit- und vor-, sondern auch querdenken?

Top-Manager polarisieren. Und das nicht, obwohl so wenig über das Leben in den Vorstandsbüros bekannt ist – sondern gerade deswegen. In jeder Wissenslücke gedeihen Lügen und Halbwahrheiten. Niemand weiß so ganz genau, was ein Unternehmenslenker den ganzen Tag treibt. Wie viele Stunden ist er im Büro? Wie und mit wem kommuniziert er – und worüber?

Schon lange versuchen Wissenschaftler, darauf Antworten zu finden. Der Kanadier Henry Mintzberg etwa. Bevor er an der McGill-Universität zu einem der bekanntesten Managementprofessoren weltweit wurde, begleitete er in den Sechzigerjahren im Rahmen seiner Doktorarbeit wochenlang eine Handvoll Top-Manager und notierte penibel, wie sie die Zeit bei der Arbeit verbrachten. Doch über Banalitäten wie „Manager haben viele Aufgaben, zwischen denen sie ständig hin- und herwechseln“ kam er damals nicht hinaus.

Oriana Bandiera wiederum, Ökonomieprofessorin an der London School of Economics, gewann im Jahr 2017 immerhin 1100 CEOs dafür, eine Woche lang täglich mit ihr zu telefonieren und dabei ihre Tätigkeiten zu dokumentieren. Die Essenz: Je größer der Konzern, desto schädlicher waren Mikromanager, die sich um jedes kleine Detail selbst kümmern wollten. Doch keine Studie konnte systematisch und über einen längeren Zeitraum hinter den Vorhang des Top-Managements schauen. Bis jetzt. Denn zwei Wissenschaftlern der Harvard Business School (HBS) ist es gelungen, den Tagesablauf mehrerer CEOs exakt zu rekonstruieren.

Nitin Nohria, Dekan der Hochschule, schloss sich dafür mit dem renommierten Managementprofessor Michael Porter zusammen. Zunächst warben sie in mehreren Führungskräftekursen für die Teilnahme an ihrer Untersuchung – und gewannen dadurch immerhin 27 Top-Manager. 25 Männer und 2 Frauen, deren Konzerne im Schnitt einen Umsatz von 13,1 Milliarden Dollar machten. Dabei profitierten die beiden Forscher erheblich von den jeweiligen Vorstandsassistenten. Weil diese Helfer im Hintergrund Einblick in die persönlichen Kalender ihrer Chefs hatten, führten sie drei Monate lang minutiös Buch darüber, was der CEO mit seiner Zeit anstellte – 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche.

Diese Angaben ließen sich die Assistenten regelmäßig von ihrem Vorgesetzten bestätigen. Insgesamt verschafften sich Nohria und Porter einen Überblick über 60.000 Stunden im Leben eines Vorstandschefs und gewannen dadurch vor allem zwei Erkenntnisse: Besprechungen rauben Angestellten regelmäßig Zeit und Nerven – und Top-Manager sind da keine Ausnahme. Tatsächlich zeigte die Auswertung von Nohria und Porter, dass Meetings den größten Platz im Kalender der CEOs einnehmen: „Die schiere Anzahl und Vielfalt der unterschiedlichen Besprechungen ist ein Kernmerkmal ihres Jobs“, sagt Nohria. Im Schnitt kam jeder Unternehmenslenker in der Studie auf 37 Meetings pro Woche. Anders ausgedrückt: Er verbrachte 72 Prozent seiner Arbeitszeit in Konferenzen. Und jedes dritte Meeting, an dem der CEO teilnahm, dauerte mehr als eine Stunde.

Der HBS-Dekan rät Top-Managern daher zur Vorsicht: Sie müssten sich genau überlegen, bei welchem Treffen ihre persönliche Anwesenheit wirklich unabdingbar ist, die Teilnahme im Zweifelsfall delegieren und generell kürzere Besprechungen ansetzen. „Egal, wie lange deine Angestellten zusammensitzen wollen“, sagte ein befragter CEO zu Nohria, „man sollte ihnen immer nur die Hälfte der Zeit gönnen.“

Ein weiterer Zeit- und Produktivitätsdieb ist digitale Kommunikation. 24 Prozent ihrer Arbeitszeit verbrachten die befragten Manager damit, E-Mails oder SMS zu lesen und zu beantworten. Daher mahnt Nohria zu einem achtsamen Umgang: „Die Mehrheit der E-Mails betrifft Probleme, mit denen der Chef nichts zu tun hat.“ Außerdem erzeugten sie häufig eine Abwärtsspirale unnötiger Kommunikation, weil sich die Angestellten zur Antwort gedrängt fühlen. Faustregel der Forscher: Spät in der Nacht, an Wochenenden oder an Feiertagen keine E-Mails an die Angestellten.

Die Notwendigkeit von Ruhephasen scheint bei den meisten Vorstandschefs aber angekommen zu sein. Im Zeitalter von Achtsamkeit und Nachhaltigkeit sind durchzechte Nächte und Überstunden bis zum späten Abend verpönt. Dafür sprechen zumindest die durchaus gesitteten Arbeitszeiten der teilnehmenden Konzernlenker: Im Schnitt waren die CEOs an einem Werktag 9,7 Stunden mit beruflichen Themen beschäftigt. Dafür arbeiteten sie aber auch an jedem Wochenende (durchschnittlich 3,9 Stunden täglich) und an den meisten Urlaubstagen (2,4 Stunden). Insgesamt kamen sie dadurch auf eine wöchentliche Arbeitszeit von 62,5 Stunden.

So bekommen Top-Manager den Kopf frei
Tom Blades, Bilfinger Quelle: Illustration: Dmitri Broido
Hendrik Brandis, EarlybirdHendrik Brandis, Mitbegründer des Risikokapitalgebers Earlybird, segelt – und zwar mit einigem Ehrgeiz: Er hat bereits Weltmeistertitel geholt. Im Alter von 17 Jahren ist er in einer Schleuseneinfahrt nahe seiner Heimat in einen heftigen Gewittersturm geraten. Es brach ein Mast, das Boot begann zu sinken. Er hatte Todesangst – und stand am nächsten Tag trotzdem wieder auf einem Segelboot. Quelle: Illustration: Dmitri Broido
Fabian Eckert, RecupFabian Eckert, Gründer und Chef des Pfandbecheranbieters Recup, träumte einst davon, Pilot zu werden. Daraus wurde nichts, weil er eine kleine Sehschwäche hat und grüne Farbtöne nicht zuverlässig erkennt. Heute schwingt er sich zumindest als Paraglider in die Lüfte. Wenn auch immer seltener, seit er vor kurzem Vater geworden ist. Quelle: Illustration: Dmitri Broido
Claus Hipp, HippDer 84-jährige Unternehmer malt bis heute an jedem freien Abend in seinem Atelier. Er mag die „schöpferische Tätigkeit“, losgelöst von allem anderen etwas Neues schaffen zu können. Beim Malen habe er gelernt, Probleme zu lösen und Entscheidungen zu treffen. Quelle: imago images
Rolf Habben Jansen, Hapag-LloydDer Vorstandsvorsitzende von Deutschlands größter Reederei Hapag-Lloyd guckt für sein Hobby nicht aufs Wasser, sondern aufs Eis: Rolf Habben Jansen schaut sich gerne Eishockeyspiele an, vor dem Fernseher oder auch live. Dafür fliegt er sogar einmal im Jahr nach Nordamerika. „Ich liebe die Geschwindigkeit“, sagt er. Und fürs Business lässt sich aus dem Eishockey auch was lernen: „Jeder Mensch darf Fehler machen, aber mich ärgert es, wenn Spieler immer wieder die gleichen Fehler machen.“ Quelle: Illustration: Dmitri Broido
Fränzi Kühne, TLGG Quelle: PR
Ijad Madisch, ResearchgateIjad Madisch, Gründer und Chef der Plattform Researchgate, packte der Ehrgeiz, als seine damalige Freundin meinte, er sei mit Mitte 30 zu alt, um Beachvolleyball auf Profiniveau zu spielen. Inzwischen ist er Anfang 40 – und hat sich neben seinem Job in die Rangliste des Deutschen Volleyballverbands hoch gepritscht und gebaggert. Quelle: Illustration: Dmitri Broido

Doch die Nachtruhe war ihnen heilig, im Schnitt schliefen die Top-Manager 6,9 Stunden pro Nacht. Vorbei die Zeiten, als sich Unternehmenslenker wie der ehemalige Bertelsmann-CEO Thomas Middelhoff oder die frühere Yahoo-Chefin Marissa Mayer damit brüsteten, mit maximal vier Stunden Schlaf pro Nacht klarzukommen. Denn wer tagsüber vor allem für das Nachdenken bezahlt wird, braucht abends entsprechende Ruheoasen – zumal er dafür im Büro selten Zeit findet. Nohria und Porter raten daher dazu, zum Beispiel Dienstreisen unbedingt alleine anzutreten, um zumindest dort in Ruhe nachdenken zu können.

Die beiden Harvard-Forscher wollen sich von den Ergebnissen ihrer Studie auch persönlich inspirieren lassen. „Immerhin haben wir CEOs dazu aufgerufen, ihre Tagesabläufe regelmäßig zu überprüfen und daraus Konsequenzen zu ziehen“, sagt Nohria, „deshalb gehen wir nun auch wesentlich bewusster mit unserer Zeit um.“

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