
Sara Scheibel, 18, besucht die Gesamtschule Ost in Bremen-Tenever. Laut der Ausbildungsbilanz 2016 der Agentur für Arbeit in Bremen hat sie beste Chance auf einen Ausbildungsplatz – so wie auch ihre Klassenkameraden. Laut Statistik kamen nämlich im Jahr 2015 in Bremen 3415 angehende Azubis auf 4011 Lehrstellen. „Unversorgt“, also ohne Ausbildungsplatz, blieben im Jahr 2015 in Bremen nur 174 Bewerber.
„Das ist Augenwischerei“, sagt Scheibel. In ihrer Klasse wollten am Ende der zehnten Klasse 12 von 24 Mädchen und Jungen eine Ausbildung machen. „Am Ende hatten aber nur drei einen Ausbildungsplatz.“ Einer lernt jetzt Elektriker, einer Einzelhandelskaufmann und eine Verwaltungsfachangestellte. Der Rest ging notgedrungen weiter zur Schule - oder hing zunächst in Übergangsmaßnahmen fest.
Dabei suchen Unternehmen händeringend Azubis: Mehr als 660.000 offene Stellen haben Unternehmen derzeit bei der Bundesagentur für Arbeit gemeldet – zwei Drittel davon richten sich an Gesellen und Meister und nicht an Akademiker.
“Wenn wir uns heute über Talent-Management unterhalten, dann sollte man bedenken, dass die duale Ausbildung und ihre Zielgruppen den Grundpfeiler für den Erfolg vieler Unternehmen bildet”, sagt auch Christoph Beck. Er ist Professor für Personal- und Bildungswesen an der Fachhochschule Koblenz und begleitet die jährlich erscheinende Studie „Azubi Recruting-Trends“ von u-form Testsysteme, einem Anbieter von Eignungstests in der Ausbildung und bei Bewerbungen.
Die aktuelle Studie, die WirtschaftsWoche Online exklusiv vorliegt, geht der Frage nach, warum Jugendliche und junge Erwachsene wie Scheibel und ihre Klassenkameraden nicht mit den Unternehmen zusammen kommen, die sich Lehrlinge wünschen. Dafür befragten die Macher der Studie in diesem Frühjahr mehr als 2600 junge Menschen, die sich auf eine Lehrstelle bewerben, mehr als 900 Ausbilder und 150 Eltern von angehenden Azubis.
Fehler Nr 1: Unternehmen blenden Hauptschüler aus
Die Studie gibt den Bremern Gesamtschüler Recht: Zwar müssen gut die Hälfte der Schulabgänger nur maximal fünf Bewerbungen schreiben, bis sie einen Vertrag sicher haben, Hauptschüler haben bei den Unternehmen dennoch schlechtere Chancen.
Fragt man die Betriebe, liegt das an der schlechteren Qualifikation der Hauptschüler. Wenn sich aber nicht genug Einser-Abiturienten finden, die Friseurin, Fliesenleger oder Hotelfachfrau werden wollen, bleiben den Unternehmen nur zwei Möglichkeiten: in Schönheit sterben oder Hauptschülern eine Chance geben – und sie im Zweifelsfall nachqualifizieren.
Wie Azubis über die Berufsausbildung denken
Im Rahmen der Studie "Azubi-Recruiting Trends 2016" befragt u-form Testsysteme, ein Anbieter von Eignungstests in der Ausbildung und bei Bewerbungen, zusammen mit der Hochschule Koblenz und der Berufsorientierungsplattform blicksta jährlich mehrere tausend Auszubildende und ihre Ausbildungsleiter. 2016 fand die Umfrage zum siebten Mal statt, 3.343 Azubi-Bewerber und Auszubildende sowie 1.295 Ausbildungsverantwortliche nahmen teil.
Der Aussage "Mit einer Ausbildung hat man etwas Handfestes und lernt nicht nur pure Theorie", stimmten 90,1 Prozent der befragten Lehrlinge und angehenden Azubis zu.
Für die jungen Menschen ebenfalls wichtig: die finanzielle Komponente einer Ausbildung. 88,1 Prozent schätzen an der dualen Ausbildung, dass sie von Anfang an etwas verdienen.
Dieses Statement trifft für 87,7 Prozent zu.
Bei dieser Aussage fällt die Zustimmung schon geringer aus. Trotzdem: 59,2 Prozent - also eine deutliche Mehrheit - glauben, dass eine Ausbildung genauso gut aufs spätere Berufsleben vorbereitet, wie ein Studium.
Während die Ausbildung einst für die breite Masse und das Studium für einen kleinen Kreis war, ist es heute eher umgekehrt, sagen 54,8 Prozent der befragten Lehrlinge.
Dem stimmen 52,5 Prozent zu.
Dass Studenten von oben auf Auszubildende herabsehen, sehen 46,6 Prozent so. Die Mehrheit glaubt nicht, dass das zutrifft.
42,7 Prozent der Auszubildenden glauben, dass ein Studium nur für Papas Nerven oder Mamas Stolz gut ist. 57,3 Prozent glauben dagegen nicht, dass die obige Aussage zutrifft.
Meister statt Master: Dass Menschen mit einer Berufsausbildung Führungspositionen verwehrt bleiben, glauben nur 30 Prozent der Azubis. 70 Prozent sehen nicht, warum sie ohne Studium nicht trotzdem Chef werden können.
Die Industrie- und Handelskammern bieten deshalb Unternehmen und Bewerbern an, sich in einem Schnupperpraktikum kennen zu lernen.
Tatsächlich sieben die Unternehmen aber nicht erst aus, wenn die Bewerbung eingeht. Schon mit ihren Stellenanzeigen vergraulen viele Betriebe potenzielle Mitarbeiter.