
Krankheit kostet: Rund 225 Milliarden Euro beträgt der volkswirtschaftliche Schaden in Deutschland durch Fehlzeiten und reduzierte Leistung am Arbeitsplatz, sagt Booz&Company. Die Unternehmen wissen das und haben früh reagiert. Seit Jahrzehnten achten Arbeitsmediziner darauf, dass Kisten nicht zu schwer und Schreibtische nicht zu niedrig sind.
Die Erfolge sind beachtlich, aber nicht ausreichend. Denn inzwischen rollt eine Welle psychischer Erkrankungen auf die Betriebe zu. Von 1997 bis 2012 haben die Fehlzeiten durch solche Befunde um 165 Prozent zugenommen. Gleichzeitig trifft der demographische Wandel die Wirtschaft mit voller Wucht. Junge Fachkräfte sind Mangelware, wir alle werden einige Jahre länger arbeiten müssen. Doch wie soll das gehen, wenn sich viele Berufstätige schon mit 50 ausgebrannt fühlen?
Was bei der Arbeit stresst
Was sorgt im Büro für Stress? Der Personaldienstleister Robert Half hat im höheren Management nach den wichtigsten Gründen gefragt. Dabei gaben 18 Prozent der Befragten zu viel Verantwortung oder ständiges an die-Arbeit-denken auch in der Freizeit als Grund für Stress bei der Arbeit an. Nur in Tschechien können die Beschäftigten außerhalb des Arbeitsplatzes schwerer abschalten - dort gaben 28 Prozent an, dauernd an die Arbeit denken zu müssen. Auf der anderen Seite der Skala ist Luxemburg: nur fünf Prozent haben dort dieses Problem.
Keinen Stress haben dagegen nur sieben Prozent der deutschen Befragten. Genauso niedrig ist der Anteil derer, die ihren aktuellen Job nicht mögen.
Unangemessener Druck vom Chef nannten 27 Prozent der Befragten hierzulande als Stressgrund. In Brasilien sind es dagegen 44 Prozent.
Wenn der Chef sich eher um sein Handicap kümmert, statt ordentlich zu führen: 28 Prozent der Befragten sind mit der Managementfähigkeit des Chefs unglücklich. Das Unvermögen des führenden Managers, das zu Stress führt, scheint in Luxemburg relativ unbekannt zu sein - nur 11 Prozent der Befragten sind dort mit den Befragten unglücklich, in Dubai sind es gar neun Prozent.
Dass unangenehme Kollegen oder fieser Büroklatsch zu Stress führen kann, ist allgemein bekannt. Dementsprechend führen auch 31 Prozent der Befragten das als Stressgrund an - der Anteil derer, die das ähnlich sehen, liegen in allen anderen Ländern fast gleich hoch - außer in Brasilien: 60 Prozent der Befragten geben unangenehme Kollegen und fiesen Büroklatsch als Stressgrund an.
Ein weitere Stressgrund: personelle Unterbesetzung. 41 Prozent der Befragten sehen das als wichtigen Grund für Stress bei der Arbeit an - ein Wert, der fast in allen Ländern ähnlich ist.
Doch am problematischsten, laut der Studie: die hohe Arbeitsbelastung. 51 Prozent der Befragten gaben dies als Stressgrund an. Deutschland liegt damit im Schnitt, auch in den anderen elf Ländern ist ein ähnlich hoher Anteil der gleichen Meinung.
Integriertes betriebliches Gesundheitsmanagement soll die Antwort sein. Anstatt nur die Position des Bildschirms normkonform zu vermessen, müssen sich Unternehmen ganzheitlich um das Wohlbefinden ihrer Mitarbeiter kümmern. Und mit Wohlbefinden ist eben nicht nur der Bandscheibenvorfall gemeint, sondern ebenso die psychische Gesundheit, die bis in die Privatsphäre reicht, aber bisher auch am Arbeitsplatz zu wenig beachtet wurde.
Auch die Gesundheit der Anwesenden ist wichtig
Bernhard Badura warnt, dabei zu sehr auf die Fehlzeitenstatistik zu schauen. „Die sagt nur etwas über die Abwesenden aus, aber nichts aus über die Gesundheit der Anwesenden“, kritisiert der inzwischen emeritierte Gesundheitswissenschaftler von der Universität Bielefeld. In Unternehmen grassiere der Virus des Präsentismus: anwesend sein, aber nicht die volle Leistung bringen, weil zahlreiche Probleme aufs Gemüt drücken. Wie sich Unternehmen hier verkalkulieren können, zeigt eine Studie von 2007 über die Kosten durch gesundheitliche Beeinträchtigung von mehr als 12.000 Mitarbeitern bei Dow Chemical:
Im Schnitt kosteten die Krankheitstage eines Mitarbeiters pro Jahr 661 Dollar, ein anwesender Mitarbeiter mit eingeschränkter Arbeitsfähigkeit koste aber rund das Zehnfache. „Nicht jeder Abwesende ist krank und nicht jeder Anwesende ist gesund“, sagt Badura. Und plädiert für einen anderen Umgang mit dem Thema Gesundheit: weg vom Blick auf Störung und Krankheit zu einem achtsamen und ganzheitlichen Umgang mit Gesundheit. Eine gesundheitsfördernde Unternehmenskultur oder die Qualität zwischenmenschlicher Beziehungen, etwa zu den Kollegen oder zum Vorgesetzten gehören eben auch dazu.
Fünf Tipps zur Stressbewältigung
Sagen Sie auch mal „Nein“. Haben Sie gerade keine Kapazitäten für eine neue Aufgabe oder ein Projekt, sagen Sie frühzeitig Bescheid. Selbstverständlich gibt es Situationen, in denen Sie mit „Ja“ antworten müssen. Aber vielleicht hat ein Kollege gerade mehr Zeit oder die Aufgabe ist doch nicht ganz so dringend.
Niemand ist perfekt, stellen Sie daher keine zu hohen und unrealistischen Erwartungen an sich selbst. Damit blockieren Sie sich nur.
Identifizieren Sie die Auslöser. Jeder Mensch gerät durch andere Dinge unter Druck. Um einen Überblick zu behalten, hilft es, sich eine Liste mit seinen persönlichen Stressfaktoren anzulegen. Stört Sie zum Beispiel das ständige „Pling“ eingehender E-Mails, stellen Sie den Computer auf lautlos und bestimmen Sie einen festen Zeitraum, in dem Sie Mails beantworten.
Stress zu unterdrücken, ist auf lange Sicht keine Lösung. Früher oder später wird er wieder hochkommen. Um das zu vermeiden, sprechen Sie darüber mit einem Kollegen und beziehen Sie auch ihren Chef mit ein. Allein das Gefühl, aktiv etwas gegen den Stress zu tun, hilft bei der Bewältigung.
Machen Sie Sport – Bewegung ist eine gute Methode, um Stress entgegen zu wirken. Ein kurzer Spaziergang zur Kantine oder morgens eine Station früher aussteigen, hilft Ihnen bei der Stressbewältigung. Nehmen Sie die Treppe statt den Aufzug und laufen Sie zum übernächsten Drucker statt zum nächsten.
Gesundheit ist demnach nicht nur das Fehlen von Krankheit, sie ist ein wichtiges Handlungspotenzial zum Erbringen von Leistung. Mitarbeiter und Management sind daher gleichermaßen in der Pflicht. Beim Arbeitsschutz ist das seit Jahrzehnten unstrittig. Das Vermeiden von Unfällen schlägt unmittelbar auf die Rendite durch.
Die Erkenntnis, dass dies auch bei der mentalen Gesundheit so ist, setzt sich erst neuerdings durch und dies zunächst in großen Unternehmen. Die Zahl der Frühverrentungen wegen psychischer Befunde nimmt zu, besonders dramatisch seit 2006. Ob tatsächlich die Belastungen steigen oder ob solche Diagnosen nur häufiger als Verrentungsgrund akzeptiert werden, sagen die Zahlen nicht.
Klar ist aber, dass Handlungsbedarf herrscht. Sonst brechen den Arbeitgebern die angesichts des demographischen Wandels unverzichtbaren Mitarbeiter über 50 weg.
Auf die Krankenkassen dürfen die Unternehmen dabei nicht hoffen. Die Investitionen der Gesetzlichen Krankenversicherungen in die betriebliche Gesundheitsvorsorge beliefen sich 2012 auf 46,1 Millionen Euro. Damit erreichten sie gerade einmal 0,2 Prozent aller Beschäftigten. Immer mehr Betriebe nehmen die Verantwortung für die psychische Gesundheit ihrer Mitarbeiter selbst in die Hand.
Gutes Gesundheitsmanagement bindet Fachkräfte
Weil es vielen Mitarbeitern schwer fällt, mit ihren Vorgesetzten über ihre Sorgen zu sprechen – nicht nur, wenn der Vorgesetzte selbst die Ursache der Sorgen ist –, engagieren größere Unternehmen externe Dienstleister. Die BTC AG, ein IT-Dienstleister aus Oldenburg mit 1600 Mitarbeitern, hat das Fürstenberg-Institut in Hamburg beauftragt. Das Institut hat eine kostenfreie Rufnummer geschaltet, wo sich BTC-Mitarbeiter unbegrenzt und kostenlos beraten lassen können, alle Kosten übernimmt BTC. Die Beratung ist streng anonym, der Vorgesetzte des Hilfesuchenden erfährt nichts von dem Anruf.
Die Themen, die in den Beratungen des Fürstenberg-Instituts zur Sprache kommen, drehen sich größtenteils um diese drei Themenfelder: Arbeitsplatz (Belastung, Teamkonflikte, Führungskonflikte), Psychische Gesundheit (Erschöpfung, Depression, Suizidgedanken), Familie (Trennung, finanzielle Probleme, Pflege). Marco Stender, Regionalleiter Nord beim Fürstenberg-Institut, rechnet damit, dass diese Themen auch in zehn Jahren wichtig bleiben – mit einer Zunahme von Suchterkrankungen wie der Smartphone-Sucht insbesondere bei jungen Mitarbeitern.





Ein ganzheitliches Gesundheitsmanagement ist für Stender der Schlüssel zur Bewältigung des demographischen Wandels. „Gesundheitsmanagement produziert keine Fachkräfte. Aber es hilft, Fachkräfte länger ans Unternehmen zu binden.“ Auch wenn die Fehlzeiten von Älteren höher seien als von Jungen, sei die Wertschätzung für Ältere gestiegen. Die Unternehmen hätten begriffen, dass sie sich das Wissen möglichst lange sichern und kontinuierlich auf die Jungen übertragen müssten. Damit ist Gesundheitsmanagement ein wichtiger Aspekt einer Unternehmensstrategie. Und es ist eine Führungsaufgabe, auf die Führungskräfte leider kaum vorbereitet sind.
Führungskräfte müssen beim Gesundheitsmanagement mitwirken
Das möchte beispielweise die Schott AG ändern. Glänzte der Mainzer Glashersteller vor fünf Jahren vor allem mit Erfolgen durch geringere Fehlzeiten von Schichtarbeitern oder bei der Suchtprävention insbesondere bei Mitarbeitern in der Produktion, hat das Gesundheitsmanagement in den letzten Jahren zunehmend auch die Führungskräfte unter seine Fittiche genommen. Ein Schulungstag zu „Führung und Gesundheit“ ist Pflicht. Nach anfänglicher Skepsis in der Zielgruppe werden die Folgeworkshops etwa zu psychischen Erkrankungen nun sehr gut angenommen. Die Führungskräfte lernen dort, Warnsignale bei Mitarbeitern zu erkennen, auch Ursachen, die aus dem privaten Umfeld kommen. Denn Probleme etwa durch den Tod eines Angehörigen oder eine Trennung legt ein Mitarbeiter nicht am Werkstor ab, sondern trägt sie als unsichtbare Bürde durch den Arbeitsalltag.
Führungskräfte dürfen und sollen sich aktiv um die Gesundheit ihrer Mitarbeiter kümmern – und natürlich um ihre eigene, denn Burnout ist bei Managern auch bei Schott kein unbekanntes Thema. Ganzheitliches Gesundheitsmanagement, nennt das Margit Emmerich, seit 2003 Leiterin des betriebsärztlichen Dienstes sowie des Betrieblichen Gesundheitsmanagements bei Schott. Sie hat die Leadership-Trainings mit Gesundheitsbezug mit entwickelt.
Management
Eine weitere Initiative von Unternehmen und Betriebsrat ist der Arbeitskreis Demographie, der u.a. Maßnahmen zur Gesunderhaltung bis ins Rentenalter entwickeln soll. Emmerichs klare Botschaft: „Gesundheit im Alter fängt in jungen Jahren an.“ Ob ein Schichtarbeiter in 20 Jahren mit 67 in Rente gehen kann, entscheidet er durch sein Verhalten bereits heute, sogar in der Ausbildung der Lehrlinge ist Gesundheit schon ein Thema. Für die White-Collar-Angestellten gibt es nun ebenfalls Präventionsangebote zur Reduzierung von Belastung. Die Arbeitszeitentgrenzung durch die ständige digitale Erreichbarkeit oder das Arbeiten von Teams über mehrere Zeitzonen hinweg ist realistischerweise unumkehrbar. Neue Rezepte müssen also her, eines ist der Aufbau von Resilienz. Statt die Ursachen von Belastung zu beseitigen, hilft Resilienz, mit Belastungen besser umzugehen und mental gesund zu bleiben.
Für die Zukunft ist Margit Emmerich von Schott optimistisch. Bewerber würden nicht nur vermehrt nach Kitaplätzen und Vereinbarkeit von Familie und Beruf fragen: „Die Jüngeren haben das Thema Gesundheit zunehmend auf dem Schirm.“