WirtschaftsWoche: Herr Striemer, es ist Freitagmorgen, kurz nach halb neun. Was haben Sie heute schon alles erledigt?
Rüdiger Striemer: Gefrühstückt habe ich um sieben Uhr und dann drei Telefonate geführt, die von gestern übrig geblieben sind.
Das klingt nicht so, als hätten Sie Ihr Pensum nach der Rückkehr aus der Psychiatrie heruntergefahren.
Nein, die Stundenanzahl ist dieselbe. Aber ich versuche, nicht mehr so viele unterschiedliche Themen in kurzer Zeit zu bearbeiten. Telefonkonferenzen im Viertelstundentakt sind für mich heute tabu. Alle halbe Stunde zu einem jeweils anderen Thema zu konferieren ist schon genug. Aber auch das mache ich nicht mehr von morgens bis abends.
Warum hat Sie dieses Tempo belastet?
Weil ich nichts mehr zu Ende denken konnte, mich in kürzester Zeit mit einem Problem beschäftigen und dann eine Entscheidung treffen musste. Wenn man nichts mehr zu Ende denkt, dann bleiben am Ende des Tages zu viele Fragen offen, die unbeantwortet weitergären.
Zu den Personen:
Gruhn, 51, hat 1997 den IT-Dienstleister Adesso gegründet und ist mittlerweile Vorsitzender des Aufsichtsrats. Außerdem hat er an der Universität Duisburg-Essen einen Lehrstuhl für Software Engineering inne. Rüdiger Striemer kennt er seit mehr als 15 Jahren.
Striemer, 46, ist Vorstandsmitglied beim IT-Dienstleister Adesso und unter anderem für Softwareentwicklung verantwortlich. 2011 musste er wegen einer psychischen Erkrankung zwei Monate aussetzen. 2012 kehrte er in die Vorstandsetage zurück.
Hat das zu Ihrem Burn-out geführt?
Das Burn-out war bei mir eine Angststörung. Burn-out hat immer so einen heldenhaften Anstrich. Da hat einer fürs Unternehmen alles gegeben, und jetzt ist er ausgebrannt. Aber das ist oft nur die halbe Wahrheit. Meine Arbeitsbelastung war sicher nicht der alleinige Auslöser dafür. Psychische Störungen hängen oft sehr eng zusammen mit nicht verarbeiteten Dingen aus der Vergangenheit – in meinem Fall mit dem frühen Tod meiner Mutter. Ich war elf Jahre alt, als sie nach langer Krankheit starb. Diese verdrängten Erlebnisse wollen irgendwann raus, und der Prozess wird beschleunigt, wenn ausgerechnet dann eine hohe psychische Belastung im Beruf dazukommt.
Wie hat sich das bei Ihnen geäußert?
Das ist ein schleichender Prozess. Schwindel, Kopfdruck, Herzrasen, ständige Nervosität, tagsüber Angst und Panikattacken mitten in der Nacht. Kleinigkeiten haben mich extrem aufgeregt. Zum Beispiel als eine Frau im Supermarkt vor mir in der Schlange ihre Chipstüte kompliziert mit der Kreditkarte bezahlt hat. Das ärgert jeden, aber ich bin geradezu explodiert.
Herr Gruhn, können Sie sich noch an den Tag erinnern, als Herr Striemer Ihnen zum ersten Mal von seinen psychischen Problemen erzählt hat?
Volker Gruhn: Ich kann mich zumindest an den Abend erinnern, an dem klar wurde, dass dringend etwas geschehen muss. Wir waren in Berlin zum Essen verabredet. Doch dann rief er mich an und sagte mir, dass wir nicht ausgehen – und dass wir uns stattdessen bei ihm zu Hause treffen.
Striemer: Das war der Abend, bevor ich in die Klinik gegangen bin. Mittlerweile hatte die ständige Angst dafür gesorgt, dass ich das Haus nicht mehr verlassen konnte.
Und dann?
Striemer: Er ist vorbeigekommen, wir haben uns in meine Küche gesetzt, und ich habe ihm gesagt, dass ich eine Auszeit brauche. Da stand die Entscheidung für die Klinik noch nicht. Die ist dann in derselben Nacht gefallen.
Gruhn: Wir haben diskutiert, was eine Auszeit konkret bedeutet und was jetzt passieren muss.
Striemer: Und wir haben die Übergabe gemacht. Haben versucht, alle Aufgaben durchzugehen. Welche Themen sind noch offen? Welche großen Projekte liegen auf meinem Schreibtisch? Dann sind wir den Kalender durchgegangen. Denn uns beiden war schnell klar: Ich bin jetzt ein paar Wochen völlig weg.