Soll niemand sagen, Joe Kaeser sei unflexibel. Als er 1995 für Siemens in die USA ging, hieß er noch Josef Käser. Doch das klang zu sehr nach dem Burschen aus dem 2000-Seelen-Ort Arnbruck – und zu wenig nach dem Manager eines Weltkonzerns. Er änderte seinen Namen.
Inzwischen ist Kaeser an der Siemens-Spitze, auf Veränderungen steht er weiterhin. Bevor er vom Finanzchef zum Vorstandsvorsitzenden wurde, rasierte er den dicken Schnurrbart ab und nahm einige Kilos ab. Diese Wandelbarkeit verlangt er nun auch von Siemens.
Sein Vorgänger Peter Löscher hatte das Geschäft in vier Sektoren gegliedert – Gesundheit, Energie, Industrie, Infrastruktur & Städte. Diese Struktur will Kaeser beenden. So will er Abläufe beschleunigen und den Kunden näher rücken.
Kaeser verlässt sich vor allem auf seinen Instinkt und seine Erfahrung: „Man muss nicht unbedingt Beratungsfirmen beauftragen, um zu erfahren, welche Dinge verändert werden müssen.“ 362 000 Mitarbeiter hoffen, dass er recht behält – und sich die Veränderungen als richtig erweisen.
„Alles fließt“, schrieb der griechische Philosoph Heraklit bereits im 5. Jahrhundert vor Christus. Der Evolutionsbiologe Charles Darwin sagte im 19. Jahrhundert: „Weder die stärkste noch die intelligenteste Spezies überlebt. Sondern jene, die sich am besten dem Wandel anpasst.“ Das gilt auch für Unternehmen. Mehr denn je.
Ein Produkt, das sich an einem Tag gut verkauft, kann am nächsten schon wie Blei in den Regalen liegen. Ein profitables Geschäftsmodell wird kopiert, Trends kommen und gehen. Konzerne fusionieren, Chefs wechseln, Teams werden ausgetauscht. Kurzum: Erfolgsrezepte von heute sind morgen häufig wertlos.
Aber wie können Führungskräfte Veränderungen sinnvoll planen, kommunizieren und umsetzen – und zwar so, dass die Mitarbeiter den Wandel mindestens akzeptieren und bestenfalls begrüßen? „Ich denke, dass man Menschen einiges an Veränderungen abverlangen kann“, sagt Peter Bauer, Aufsichtsratschef von Osram, „zumindest, wenn das Management transparent und ehrlich informiert über die Notwendigkeiten, unter denen sie diese Entscheidungen treffen müssen“.
Aus Betroffenen müssen Beteiligte werden
Wie wichtig es ist, solche grundlegenden Veränderungen professionell zu begleiten, zeigte im vergangenen Jahr die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft PricewaterhouseCoopers. Die Berater analysierten Veränderungsprojekte in 68 der umsatzstärksten deutschen Unternehmen. Das Ergebnis: 83 Prozent der Konzerne mit systematischem Change Management erreichten die meisten Veränderungsziele. Von den Konzernen ohne Change Management sagten das nur 39 Prozent.
Klar ist allerdings: Es bringt nichts, nur an den Verstand der Angestellten zu appellieren. „Mitarbeiter müssen den Wandel nicht nur intellektuell verstehen, sondern emotional“, sagt Imke Keicher, Leiterin der Change-Management-Sparte bei der Unternehmensberatung Capgemini. Diese Fähigkeit wird für Führungskräfte zunehmend wichtiger.
Das bestätigt der Headhunter Stephan Penning, geschäftsführender Gesellschafter von Penning Consulting. Drei Fragen müssten die Manager beantworten: Warum ist die Veränderung notwendig? Wohin soll sie führen? Und was bedeutet das für jeden einzelnen Mitarbeiter? Die Antworten müssten die Top-Manager der mittleren Führungsebene weitergeben. Denn sie haben täglich Kontakt mit den einfachen Angestellten. „Diese sollen wissen, dass es sich lohnt, Zeit und Mühe in die Veränderung zu stecken“, sagt Penning.
Insofern hat Joe Kaeser vieles richtig gemacht. An seinem ersten Arbeitstag als CEO am 1. August 2013 traf er sich mit seinen Vorstandskollegen. Fragte, wie der Konzern sich entwickeln solle, und lauschte den Antworten. Dann bat er die Mitglieder, ein Blatt Papier und einen Bleistift mit in den Sommerurlaub zu nehmen und eine Frage zu beantworten: Angenommen, Siemens würde Ihnen gehören – was müsste sich ändern? Aus seinen Erfahrungen destillierte Kaeser eine Erkenntnis: „Mach es so, als wäre es dein eigenes Unternehmen.“
Das Beispiel zeigt: Aus Betroffenen müssen Beteiligte werden, die an eine gemeinsame Erfolgsgeschichte glauben. Dadurch sinkt die Angst vor dem Neuland. Und das ist auch gut so.
Die drei häufigsten Fehler bei Veränderungen
Wer seine Angestellten nicht vergraulen will, darf keinesfalls autokratische Befehle erteilen oder den Eindruck erwecken, dass die oberste Führungsetage alle Veränderungen von oben herab diktiert. Führungskräfte sollen zwar das Ziel vorgeben. Doch am Weg dorthin muss die Belegschaft mitwirken.
Zu viel Basisdemokratie führt zu Aufschieberitis, Planlosigkeit und Verwirrung. Ob eine geplante Veränderung überhaupt sinnvoll ist, sollte zwar unbedingt geklärt werden – bevor konkrete Schritte überlegt werden. Doch diese Entscheidung sollte keinesfalls im Kreis der Mitarbeiter erörtert werden. Wer den Sumpf trockenlegen will, fragt besser nicht die Frösche.
Gut gemeint, schlecht gemacht: Wer zu schnell zu viel verändern will, erregt Widerstand. Nicht aus Bösartigkeit, sondern oft aus Gewohnheit. Umso wichtiger, dass Manager die Angestellten nicht überfordern – und immer wieder mantraartig klarmachen, warum die Veränderung alternativlos ist.
Menschen sind Gewohnheitstiere, Veränderungen sind ihnen zuwider. Die Macht der Tradition ist stärker als die Lust an der Innovation. Diese Tendenz zur geistigen Trägheit bezeichnen Psychologen als Status quo bias: Wir bleiben einer Entscheidung selbst dann treu, wenn sich neue, bessere Möglichkeiten bieten.
Deshalb ist niemand ständig von Wandel begeistert. Viele Angestellte reagieren auf Reformen überrascht, bisweilen geschockt, schlimmstenfalls blockieren sie. Statt mitzugestalten, rotten sie sich in Grüppchen zusammen. Motto: „Nicht schon wieder!“ „Was soll das bringen?“ „Was heißt das für mich?“ Geteiltes Leid ist halbes Leid.
Change Agents sollen Ängste nehmen
Theo Wehner hat das selbst oft erlebt. Der 65-Jährige ist seit 1997 Psychologieprofessor an der ETH Zürich und berät Unternehmen bei Veränderungsprojekten. Das Schwierigste sei, dass die Betroffenen umlernen müssen: „Das ist viel problematischer, als etwas neu zu lernen. Denn sie müssen Gewohnheiten aufgeben.“ Das ist das Dilemma jedes Wandels: Die Betroffenen müssen neues Wissen zulassen, ohne ganz auf das alte zu verzichten.
Dieses Problem kennt auch MVV Energie. Der Mannheimer Konzern gehört mit einem Umsatz von etwa vier Milliarden Euro und 5500 Mitarbeitern zu den führenden Energieunternehmen in Deutschland. Seit einigen Jahren setzt er auf ein Netzwerk von etwa 60 Change Agents. Dahinter verbergen sich Angestellte aus verschiedenen Abteilungen, die die Führungskräfte bei Veränderungsprozessen unterstützen.
Sie tauschen sich ständig mit ihren Kollegen aus, hören zu, leiten Workshops. Dort können Mitarbeiter Vorschläge machen, um die Arbeit effektiver und effizienter zu gestalten. Die Change Agents sollen ihren Kollegen Ängste nehmen, Chancen aufzeigen, Stimmungen aufgreifen, sprich: die Gerüchteküche auf Sparflamme halten und den Boden für Veränderungen bereiten. Das lohne sich für alle Beteiligten, sagt Liane Schmitt, Leiterin der MVV-Personalentwicklung. „Change Agents leisten einen unverzichtbaren Beitrag für die Akzeptanz von Veränderungen.“
So gelingt der Umbau
Sie versuchen, ein zunehmend unprofitables Geschäft über Wasser zu halten, und bauen gleichzeitig einen neuen Zweig auf, der stark wächst? Trennen Sie für diese unterschiedlichen Geschäfte und Geschwindigkeiten sukzessive Strukturen, Leitung und Führungsmethoden.
Die Synergien unterschiedlicher Geschäftsfelder sind kleiner als die Bremswirkung ihrer Kompromisse? Dann denken Sie über ein Abspalten des dynamischen Teils nach. Geschwindigkeit ist im Wettbewerb oft wertschaffender als Synergie.
Sie managen ein global-dynamisches, innovationsgetriebenes Unternehmen? Dann sind partizipatorische, dezentrale Entscheidungsstrukturen besser.
Ihr Unternehmen steckt in einer Kostenkrise? Setzen Sie auf zentralisierte, hierarchische Führung, und machen Sie klare Vorgaben.
Passen Sie die Organisation Ihres Unternehmen regelmäßig an – so schaffen Sie immer wieder einen neuen Fokus auf die zentralen Fragen des Marktes.
Vermitteln Sie Freude daran, Fehler zu machen und deren Ursachen zu suchen. Lassen Sie fachliche Dummheit zu, schaffen Sie Kommunikationsräume, in denen intelligente Leute frei von bisherigen Mustern über die Zukunft des Unternehmens nachdenken. Führung ist ein sozialer Prozess und lebt nicht nur von Fachautorität.
Lernen Sie, Kritik aus den eigenen Reihen zu lieben. Das ist gelebte Innovation – hoch spezialisiertes Erfahrungswissen neu zu kombinieren und auf neue Möglichkeiten übertragen.
Fördern Sie den kritischen Geist Ihrer Mitarbeiter, und zapfen Sie deren Wissen an – Sie werden Lösungen entdecken, auf die Sie und Ihr Management allein nicht gekommen wären.
Holen Sie Ihre Mitarbeiter ins Boot, und teilen Sie Ihren Blick auf die Realität mit ihnen. Seien Sie klar, wo Sie Klarheit haben, und sagen Sie, was Sie nicht wissen – dann werden Ihre Mitarbeiter mehr Verständnis haben und mitziehen.
Zugegeben: Es ist eine Utopie, dass Führungskräfte ein Klima schaffen, in dem ständiger Wandel zur Routine wird. Systeme sind träge, sonst würden sie Krisen nicht überleben. Doch diese Stärke erweist sich bei Veränderungen als Schwäche.
Deshalb müssen Führungskräfte vorab die Attitüde der Angestellten analysieren, rät Capgemini-Beraterin Keicher. Wer ist dem Wandel gegenüber positiv eingestellt, wer negativ? Wer zögert oder ist skeptisch, wer hat resigniert? Ignorieren die Chefs die Gemütslage ständig, lassen die Angestellten die Veränderung scheitern. Nicht unbedingt, weil sie inhaltlich oder strategisch falsch ist – sondern weil sie schlecht kommuniziert wurde.
Das Beste aus beiden alten Welten
Das wollte Lutz Schüler unbedingt vermeiden. Seit Januar 2011 war er CEO des Telekommunikationskonzerns Unitymedia, im Jahr 2012 verantwortete er die Übernahme des Konkurrenten KabelBW und die Zusammenführung der beiden Unternehmen. Die Führungspositionen besetzte Schüler bewusst mit Managern aus beiden ursprünglichen Unternehmen. Das Signal: Es sollte eine neue Firma entstehen, aber gewissermaßen mit dem Besten aus beiden alten Welten.
Nun trafen sich die 120 Führungskräfte zu regelmäßigen Workshops. Dort destillierten sie 13 Aussagen, mit denen sie den Kulturwandel umsetzen wollten. Darunter: Offenheit für konstruktiven Dialog, faire Anreize oder regelmäßigen Austausch. Für alle Versprechen wurden Paten aus der Führungsetage benannt. Um deren Engagement zu verdeutlichen, gaben sie das ihnen zugeordnete Versprechen in einem internen Video bekannt. Außerdem verkündete CEO Schüler öffentlich, dass er bis zu 20 Prozent seiner Zeit dem Wandel widmen werde.
„Das Change-Projekt war und ist nicht einfach“, sagt Karl-Heinz Reitz, Leiter der Personalentwicklung von Unitymedia KabelBW. Abläufe mussten geklärt, IT-Systeme vereint, Mitarbeiter entlassen werden. „Aber die Führungsebene nimmt das Projekt ernst. Und eine solche dauerhafte Unterstützung ist das A und O jeder Veränderung“, sagt Reitz.
Erste Erfolge sind schon zu erkennen: Der Gewinn stieg im vergangenen Jahr um neun Prozent auf knapp 1,2 Milliarden Euro, der Umsatz um sieben Prozent auf 1,9 Milliarden Euro, insgesamt verkauften die Vertriebler 560.000 neue Abonnements für Internet, Telefon und Kabelfernsehen.
Auf einen ähnlichen Schub durch seine Umstrukturierungen hofft Siemens-Chef Joe Kaeser. Am 8. Mai gibt er in einer Telefonkonferenz die Bilanz für das zweite Quartal bekannt. Dort will er Details zur neuen Strategie nennen. Immerhin: Die Anleger vertrauen ihm derzeit. Seit Mitte 2013 stieg der Siemens-Kurs um knapp ein Viertel auf etwa 97 Euro. Natürlich kann Kaeser nicht garantieren, dass ihm die Früchte des Umbaus später einmal tatsächlich schmecken werden.
Aber eine Alternative hat er nicht. Stillstand wäre gleichbedeutend mit Rückschritt.
Oder, wie es der Physiker Georg Christoph Lichtenberg einst formulierte: „Ich weiß nicht, ob es besser wird, wenn es anders wird. Aber es muss anders werden, wenn es besser werden soll.“