Chefs in agilen Unternehmen „Etwas Anarchie ist in Organisationen nicht schlecht“

Weibler ist BWL-Professor an der Fernuniversität Hagen.

Flache Hierarchien, mehr Teamarbeit: In agilen Firmen schwindet der Einfluss von Führungskräften. Warum das gut ist, erklärt BWL-Professor Jürgen Weibler.

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Zur Person: Jürgen Weibler beschäftigt sich mit der Arbeitswelt von morgen. Der Professor für Betriebswirtschaftslehre an der Fernuniversität Hagen erklärt im Interview, was gute Führung in agilen Organisationen ausmacht – und warum Chefs dann am besten sind, wenn sie sich überflüssig machen.

WirtschaftsWoche: Herr Weibler, die Unternehmenswelt diskutiert flache Hierarchien und eigenverantwortliche Teamarbeit. Führt agiles Arbeiten nicht zu Anarchie?
Etwas Anarchie ist in Organisationen ja auch nicht schlecht. Das trägt dazu bei, Verkrustungen aufzubrechen und in manchen Bereichen freier atmen zu können. Trotzdem: Agiles Arbeiten kommt nicht von heute auf morgen. Im Vorfeld werden gewisse Regeln formuliert, wie die Arbeitsform funktionieren soll. Ein gewisses Setting ist also gesetzt. Die Mitarbeiter haben im Kern also mehr Freiräume, aber weiterhin bestimmte Verantwortlichkeiten.

Wenn es keine formellen Chefs mehr gibt, sind dann wirklich alle Teammitglieder gleichberechtigt?
Hier muss man differenzieren, wie es formal und informal aussieht. Denn informal kann alles passieren. Prinzipiell sollte natürlich ein egalitärer Grundgedanke vorherrschen, der die einzelnen Persönlichkeiten im Team gleichstellt. Das heißt natürlich nicht, dass keine durch Erfahrung oder spezifische Kompetenz entstehenden Einflusssymmetrien vorliegen könnten. Das kann es immer geben und stellt in der Regel auch kein Problem dar. Dennoch: Man soll im Team keine Binnenhierarchie einführen, die die gewonnen Freiheiten wieder zerstückelt.

Klare Verantwortlichkeiten gehören also der Vergangenheit an?
Genau, mal liegen die Kompetenzen bei Person A, mal bei Person B. Im Idealfall verteilen sich diese. Wir reden von temporären Kompetenzhierarchien.

Agile Teams brauchen eine andere Art Chef. Wie sieht gute Führung im Jahr 2020 aus?
Ich sehe einen guten Chef metaphorisch gerne als einen Impressario, eine Art Künstleragenten, der versucht, für seine Mitarbeiter – die man durchaus als kreative Wissensträger sehen kann – die Bedingungen so zu gestalten, dass jeder seinen Stärken entsprechend Rollen im Team einnehmen und sie fortentwickeln kann.

Aber ist es nicht auch mal notwendig, dass ein Chef das Machtwort spricht?
Die Frage ist, worauf dieses Machtwort fußt. Es benötigt einen Anlass und eine Begründung. Wenn ein Chef in den Arbeiten eines Teams eine Schwachstelle sieht, die bislang unverborgen blieb, ist er auch aufgefordert, dies zu sagen. Aber er muss auch nachvollziehbar verdeutlichen und sich an der Lösungssuche beteiligen. Macht er das nicht, haben wir nur eine Fassade agilen Arbeitens, die dann aufgebrochen wird, wenn der Chef es so will.

Das Bild des garstigen, furchteinflößenden Chefs ist noch fest in vielen Köpfen zementiert. Warum ist solch ein Vorgesetzter fatal?
Weil er Motivationen zerstört. Verschiedene Studien belegen, dass die große Mehrheit der Mitarbeiter sich gerne einbringt und kooperationswillig ist. Aber man muss da Realist sein: Gut ist es ja schon mal, wenn der Vorgesetzte es schafft, seine Mitarbeiter immerhin nicht zu demotivieren – und wenn da mehr kommt, umso besser.

Ein Großteil der Führungskräfte begrüßt eine Unternehmenskultur, die agiles Arbeiten unterstützt. Machen sie sich damit nicht selbst überflüssig?
Das wäre doch schön! Die Idee von Führung ist es doch nicht, andere in einer Knechtschaft zu halten, sondern Leute weiter zu qualifizieren. Was kann ein besseres Ziel sein, als jemanden zu entwickeln, der am Ende bessere Fähigkeiten hat als ich sie im Moment habe?

Wie weit sind deutsche Unternehmen in Sachen agiles Arbeiten?
Da gibt es leider kaum verlässliche empirische Studien. Mein Eindruck aus Gesprächen mit Unternehmen: Es wird mehr darüber gesprochen als getan.

Beim Schweizer Softwarehersteller Umantis wählen die Angestellten ihren Chef. Wie viel Demokratie braucht ein Unternehmen – und wann könnte es daran kollabieren?
Zu viel Demokratie wäre dann gegeben, wenn die Strukturen endlose Diskussionsschleifen auslösen und sich Entscheidungen verzögern. Aber auch, wenn nicht die momentan Qualifiziertesten in Führungspositionen kommen, sondern wenn die Leute aufgrund irgendwelcher Seilschaften dorthin gelangen.

Wo stößt agiles Arbeiten an seine Grenzen?
Die Grenze ist erreicht, wenn man alles fluid machen möchte. Man braucht einen gewissen Rahmen, eine Struktur, in der Agilität ausgelebt werden kann. Die kann periodisch aber auch reflektiert und überarbeitet werden. Aber das hinterfragen Sie nicht jeden Tag. Menschen brauchen einen gewissen Grad an Konstanz und Entschleunigung auf der Arbeit.

Der Havard-Ökonom Raghuram Rajan hat schon vor Jahren nachgewiesen, dass eine Führungskraft heute mit zehn Mitarbeitern doppelt so viele betreut wie noch vor 30 Jahren. Schwinden die Chancen für steile Karrieren?
Ja, die hierarchisch mögliche Einnahme von Führungspositionen sinkt. Deshalb dürfen wir uns nicht länger über solche Rollen definieren. Und wir müssen wegkommen davon, dass die Bezahlung an hierarchische Positionen gekoppelt ist.

Inwiefern?
Es muss die Möglichkeit bestehen, bei der Übernahme von Zusatzfunktionen in selbstorganisierten Teams stärkere temporäre Zuschläge zu bekommen. Generell müssen wir höhere und ähnlichere Löhne bekommen. Der Trend aktuell ist eher gegenteilig.

Jürgen Weibler arbeitet neben seiner Lehrtätigkeit am Blog Leadership Insiders. Darin beschäftigt er sich mit Fragen rund ums Thema Führung – und was sie für die Praxis bedeuten.

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