Digitalisierung Gabriels Digitalisierungsbefehl ist realitätsfremd

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Bye bye London, hello Berlin, hello Munich!

„Berlin ist attraktiv für Tech-Experten: Es gibt vergleichsweise wenig Verkehr, einen funktionierenden Nahverkehr, die Lebensqualität ist hoch, die Preise niedrig und die Stadt ist attraktiv. Entsprechend gehen die, die sich aussuchen können, wo sie arbeiten wollen, weil sie überall gefragt sind, gerne nach Berlin“, so D’Acry. In der Folge siedeln sich auch die Unternehmen dort an. „Google ist doch nicht in Berlin, weil es so eine schöne Stadt ist, sondern weil dort die Leute wohnen, die Google braucht.“

Wenn man sich nur einmal anschaut, wo die meisten Fachkräfte mit Java-Kenntnissen gefragt sind, steht München auf 1, Berlin auf 2 und dann kommt London. Doch nicht nur für IT-Experten auch für andere Fachkräfte seien deutsche Großstädte attraktiv, wie er sagt. „Eine ähnliche Bewegung gibt es auch in den USA: Die Leute verlassen das Silicon Valley und gehen in andere Städte, wo sie sich eine Wohnung leisten können“, so D’Acry.

Mitarbeiter sollen typisch deutsch sein

Doch die deutschen Unternehmen stehen diesen Kräften – zumindest in der Masse – skeptisch bis ablehnend gegenüber. Das macht sich auch bei der Fachkräftesuche der Betriebe bemerkbar. Gerade einmal jedes fünfte Unternehmen gewinnt neue Mitarbeiter im Ausland. Stattdessen suchen Unternehmen bevorzugt deutschlandweit (46 Prozent) oder regional (42 Prozent) nach Kandidaten. Dies zeigen die Ergebnisse des HR-Reports 2015/2016 des Instituts für Beschäftigung und Employability (IBE) und des Personaldienstleisters Hays, für den über 500 Entscheider befragt wurden.

Selbst wenn die Unternehmen auf ausländischen Märkten aktiv sind, die Mitarbeiter sollen bitteschön aus dem Nachbarort kommen, damit alle gleich sind. „Gerade deutsche Unternehmen sind auf sehr vielen ausländischen Märkten stark vertreten. Leider spiegelt sich dies nicht in ihrer Rekrutierungspolitik wieder. Um ihren globalisierten Märkten gerecht zu werden, sollten sich deutsche Unternehmen daher wesentlich stärker für Kandidaten aus anderen Ländern und Kulturkreisen öffnen. Denn eine große kulturelle Diversität bei ihren Mitarbeitern macht Unternehmen auf Dauer stabiler für die Marktanforderungen“, bilanziert Klaus Breitschopf, CEO der Hays AG.

Wenn überhaupt im Ausland gesucht wird, dann vornehmlich in Österreich und der Schweiz (37 Prozent), gefolgt von Westeuropa (26 Prozent). Obwohl in Südeuropa viele junge Akademiker auf der Straße stehen, haben deutsche Betriebe Portugiesen, Spanier und Griechen überhaupt nicht auf dem Radar. Auch die weltweite Suche spielt eine vergleichsweise marginale Rolle. Ungeachtet der hohen Bedeutung der chinesischen, amerikanischen und indischen Märkte finden nur vier bis sechs Prozent der befragten Unternehmen neue Mitarbeiter in diesen Ländern. Und wenn doch jemand einen Bewerber mit ausländischen Wurzeln ins Auge fasst, soll der fließend deutsch sprechen und deutsche Zeugnisse vorweisen können.

Berlin ist die große Ausnahme

Berlin sei da eine Ausnahme, so D’Acry: „Die deutsche Sprache war jahrelang ein Hindernis für Ausländer, in Deutschland ein Unternehmen aufzubauen. Mittlerweile ist man – besonders in Berlin – offen gegenüber Unternehmern, die Englisch sprechen. Entsprechend verdoppeln sich auch die Chancen, gute Fachkräfte zu finden, wenn Unternehmen ihre Stellen in Englisch und Deutsch ausschreiben.“ Deshalb zieht es viele Start-ups und IT-Experten von überall her eben nach Berlin und nicht ins Sauerland.

Trotzdem sei das Einstellungsverfahren in deutschen Unternehmen noch sehr traditionell, wie D’Acry findet. „Die Firmen bestehen darauf, dass ein Programmierer auch einen Hochschulabschluss hat, der beweist, dass er seinen Job versteht. Dabei sind 50 Prozent der IT-Experten Autodidakten. Da sollten sich die Unternehmen fragen, was ihnen wichtiger ist: Jemand, der den Job beherrscht oder jemand mit einem Zeugnis.“


Laut einer Umfrage von Stack Overflow, der größten Entwickler-Community der Welt, unter mehr als 56.000 Entwicklern aus 173 Ländern haben sich sogar 74,7 Prozent der deutschen Entwickler ihre Kenntnisse selbst angeeignet. Weltweit sind es 69,9 Prozent.

Für Unternehmen gilt deshalb: Wer bei der Beurteilung von Bewerbungsunterlagen zunächst auf den Universitätsabschluss achtet, ignoriert drei Viertel der Bewerber. Noch einmal D’Acry: „Und wer darauf besteht, dass jeder Bewerber fließend deutsch spricht, schlägt die Tür für Fachkräfte aus Asien oder den USA zu.“ Das mag im kleinen Handwerksladen noch in Ordnung sein, für alle anderen ist Offenheit gefragt, wenn sie in der globalisierten Welt nicht den Anschluss verlieren wollen.


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