Digitalisierung Gabriels Digitalisierungsbefehl ist realitätsfremd

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Die Angst vor Fehlern und Flexibilität

Es ist eben nicht nur das Produktangebot oder der Vertriebskanal, der sich ändert, sondern auch Arbeitsmarkt und Arbeitswelt. Eine Gruppe aus 24 Technologie- und Arbeitsexperten hat für die Stiftung "neue verantwortung" und die Bertelsmann-Stiftung verschiedene Szenarien entwickelt, wie letztere in Zukunft aussehen könnte. „Der Veränderungsdruck auf Beschäftigte, Arbeitgeber und Sozialstaat wird deutlich steigen – immer abhängig davon, wie gut der deutschen Industrie der Wandel in eine software- und dienstleistungsintensive Wirtschaft gelingen wird“, sagt Juliane Landmann, Projektleiterin der Studie. Zunehmend digitalisierte und vernetzte Produktionsabläufe oder plattformähnliche Geschäftsmodelle wie Airbnb oder Uber werden keine Einzelfälle bleiben, sondern Einfluss auf immer breitere Teile der arbeitenden Bevölkerung haben.

„Alle Lebensbereiche sind von der Technologie durchdrungen: Das vernetzte Auto, der vernetzte Patient, Smart Home, man sucht seinen Lebenspartner per Smartphone, kommuniziert mit dem Smartphone und bucht seinen Urlaub online. Das muss natürlich auch die Berufsbilder massiv verändern, aber ich glaube nicht, dass wir deswegen in Deutschland eine große Arbeitslosigkeit bekommen werden“, sagt auch Frank Riemensperger, Vorsitzender der Geschäftsführung von Accenture Deutschland und Mitglied im Hauptvorstand des Branchenverbandes Bitkom. Was sich aber ändern wird, ist die Art, wie wir arbeiten. Flexibilität ist das Stichwort, das auch Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) auf der CeBIT gebrauchte.

Welche Arbeitszeitmodelle deutsche Unternehmen Familien anbieten

Auch beim Institut für angewandte Arbeitswissenschaft (ifaa) geht man davon aus, dass flexiblen Arbeitszeiten und Arbeitsformen wie beispielsweise Home-Office eine höhere Bedeutung beigemessen wird.

Und auch hier tun sich viel deutsche Unternehmen schwer: Was soll bloß werden, wenn Mitarbeiter arbeiten können, wo und wie sie wollen? Flexibilität funktioniert für viele eher als Einbahnstraße: Wenn einer flexibel sein soll, dann der Mitarbeiter, aber doch der Arbeitgeber nicht. „Ich glaube nicht, dass die Mehrheit der Arbeitnehmer in Zukunft zuhause bleiben wird, denn Interaktion ist unerlässlich“, sagt Riemensperger. „Das Büro wird sich verändern und mehr zu einem Ort des Austauschs werden“, aber gearbeitet werde auch in der Zukunft noch. Nur eben anders.

Er selbst mache freitags mache früher Feierabend, um seinen Sohn zum Fußballtraining zu bringen und wieder abzuholen, „weil mir das wichtiger ist, als im Büro E-Mails zu beantworten. Das mache ich dann abends. Aber ich erwarte nicht, dass die Mitarbeiter in ihrer Freizeit darauf antworten.“

Jahrhundertealte Angst vor Fehlern

Dass all diese Aspekte – vom Einsatz entsprechender Technik über die Bereitschaft, die Mitarbeiter nicht als Eigentum zu betrachten – hierzulande nicht so recht klappen wollen, liegt an der jahrhundertealten Unternehmenskultur, wie Peters sagt. „Für eine agile Organisation braucht es vor allem Weitsicht, Risikobereitschaft und Mut. Aber bei vielen Unternehmen herrscht noch diese alte Denkweise, dass alles perfekt sein muss, weil man sich vor dem Kunden nicht blamieren darf.“ Deshalb sei die Digitalisierung auch kein Sprint, sondern ein Marathon. Nur einen Webshop einzurichten, hilft nichts, wenn niemand im Unternehmen digital denkt und auch mal riskiert, einen Fehler zu machen. „Den Mut aufzubringen, auch halbperfekte Dinge zu verkaufen, ist die größte Herausforderung, der größte Kulturwandel für deutsche Unternehmen“, bestätigt Riemensperger. Über viele Generationen hinweg habe man die Unternehmen zu einem Sicherheits- und Perfektionsstreben hin erzogen, was bei physischen Produkten ja auch sinnvoll sei, nur im aktuellen Marktumfeld ist es der wirtschaftliche Tod.

Riemensperger: „Wenn die Bremsen bei einem Auto nicht funktionieren sind die Insassen tot. Wenn medizintechnische Geräte nicht funktionieren, sind die Patienten tot. Und wenn eine Gasheizung explodiert, sterben ebenfalls Menschen. Wenn ein Softwareunternehmen eine nicht perfekte Lösung auf den Markt bringt, kommt einfach nach einigen Tagen ein neues Update.“

Deutsche Unternehmen müssen hier einen Kompromiss finden, sagt er. „Natürlich müssen die Bremsen hundertprozentig perfekt sein, aber das Infotainment-System muss schnell und vielleicht nicht ganz so perfekt sein, um mit dem Markt Schritt zu halten.“ Wenn Apple damals beschlossen hätte, das iPhone erst dann zu vermarkten, wenn es wirklich perfekt ist, wäre das Unternehmen vermutlich pleite. „Das haben viele noch nicht begriffen, dass man unterschiedliche Entwicklungsgeschwindigkeiten haben darf und auch muss, um den Anschluss nicht zu verlieren“, so Riemenspergers Fazit. Und solange das nicht in den Köpfen angekommen ist, kann der Bundeswirtschaftsminister die Digitalisierung befehlen, so viel er will.

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