Digitalisierung „Industrie 4.0 mit Unternehmenskultur 0.4 funktioniert nicht“

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"Transformation ist Mannschaftssport!"

Welche Beispiele haben Sie besonders beeindruckt?
Kehren: Es ist schwierig, einzelne Unternehmen hervorzuheben, weil jedes auch für ein eigenes Thema steht. Der Küchentechnikproduzent Rieber ist ein schönes Beispiel, weil hier niemand getrieben war von einer äußeren Gefahr für das Geschäftsmodell. Es ging einfach darum, etwas Großes zu schaffen und die Welt verbessern.

Rieber hat nach einer Lösung gesucht, um die Temperatur von Lebensmitteln konstant digital zu überwachen, um bessere Qualität zu gewährleisten und die Verschwendung einzugrenzen…
Purps-Pardigol: Genau. Und die Vision, was Digitalisierung in diesem Unternehmen bedeutet, war so klar, dass die Sinnhaftigkeit für alle Mitarbeiter ebenfalls klar war. Sie waren so begeistert, dass sie sich jahrelang mit ganz vielen Widerständen auseinandergesetzt haben, bis sie alle überwunden hatten. Die Idee war, einen Standard zu schaffen, wie die 30 Millionen Mahlzeiten in Deutschland, die jeden Tag für außer Haus Essende zubereitet werden, mit einem Minimum manuellen Aufwands auf Temperatur gehalten werden können. Die Führungskräfte bei Rieber haben durch ihre klare Vision die Mitarbeiter mitgenommen und dazu noch andere Unternehmen wie beispielsweise die Deutsche Telekom oder Kärcher gefunden, die aufgesprungen sind.

Sie haben auch Fälle dokumentiert, wo eine ganze Unternehmenskultur umgekrempelt wurde.
Purps-Pardigol: Da ist die Swisscom zu erwähnen, eigentlich ein Staatskonzern. Dort haben tatsächlich 100 Menschen wie in einem gallischen Dorf gesagt, wir machen jetzt mal alles anders. Sie haben alle Prozesse innerhalb dieses Konzerns auf den Kopf gestellt und sind unglaublich erfolgreich damit gewesen – sie haben ein neues Blockbuster-Produkt entwickelt. Das Team hat den proof of concept geliefert, dass eine dem Mitarbeiter zugewandtere Arbeitsweise funktioniert. Das führte so weit, dass die Chefebene gesagt hat, sie zöge sich aus allen Genehmigungsprozessen heraus. Die Mitarbeitenden sollten selbst entscheiden, wie Dinge priorisiert wurden und wann was entwickelt wurde. So haben sie es geschafft, ein Produkt zu entwickeln, das heute 400 Millionen Franken im Jahr einbringt: TV 2.0, ein digitales TV-Projekt.

Quelle: PR

Kehren: Ein weiteres Beispiel ist die Hamburger Hafenlogistik AG. Dort wurde beschlossen, alle durch digitalisierte Prozesse erreichten Einsparungen mit den Mitarbeitern geteilt werden sollten. Dadurch war möglich, mit dem Betriebsrat und der Gewerkschaft Vereinbarungen zu erzielen, sodass alle die Digitalisierung nicht nur als dunkle Wolken gesehen haben. Durch die positive Einstellung zogen schließlich alle an einem Strang, um das Unternehmen ins nächste Jahrzehnt zu bringen. Nicht selbstverständlich: Sonst sind die Sozialpartner bei dem Thema eher verhalten.
Purps-Pardigol: Ein anderes Beispiel ist Phoenix Contact, wo der Betriebsrat und die IG Metall mit einbezogen waren in die gemeinsame Erarbeitung der digitalen Zukunft. Wir haben in beiden Fällen die Betriebsratsvorsitzende interviewt und zu Wort kommen lassen, die aus ihrer Perspektive beschrieben, wie das gelungen ist.

Wie fällt Ihr Fazit aus zum Stand der Digitalisierungsprozesse in deutschen Unternehmen?
Purps-Pardigol: Viele Unternehmen sind auf einem sehr guten Weg. Wir haben aber auch gesehen, dass es einen wesentlichen Faktor gibt, von dem das Gelingen abhängt – und das ist der Faktor Mensch. Die Protagonisten der Digitalen Transformation, ob das CDOs sind oder CEOs, waren nur erfolgreich, wenn sie die Mitarbeiter ganz stark in den Fokus ihrer Strategie gestellt haben.

Für wie wichtig erachten Sie die Rolle des CDO?
Kehren: Letztendlich hängt es davon ab, wie die Rolle des CDO definiert ist. Unsere Beispiele haben gezeigt, dass der CDO nicht der Garant für Erfolg ist. Was nützt es einem CDO, viele Aufgaben anvertraut zu bekommen, wenn dann die Kultur im Unternehmen ihm nicht freie Hand gewährt? Für uns ist das Thema Unternehmenskultur das Erfolgsgeheimnis. Ein CDO kann an verschiedenen Stellen positive Aspekte setzen und unterstützen, aber die Digitalisierung muss ja in alle Bereiche hineinwirken. Das schafft einer allein nicht. Digitale Transformation ist Mannschaftssport!
Purps-Pardigol: Phoenix Contact sagt ganz explizit, wir wollen und brauchen keinen CDO, wir machen das im Vorstand und treiben es voran. Bei Viessmann, dem Heizungshersteller, sagt der CDO Markus Pfuhl über sich selbst: Idealerweise brauchen wir irgendwann keinen CDO mehr. Es gibt also keine klare Antwort auf die Frage. Mit einem Digitalisierungsbeauftragten ist es unter Umständen aber leichter, den Fokus der Belegschaft auf das Thema zu richten.

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