Nur wenigen Menschen ist es vergönnt, ihr Lebenswerk zu krönen. Heinz Hermann Thiele ist einer von ihnen. Der Eigentümer von Knorr-Bremse brachte im Herbst des vergangenen Jahres 30 Prozent des Zulieferers für die Nutzfahrzeug- und Bahnindustrie an die Börse – für 3,9 Milliarden Euro. „Aufgrund meines Alters ist nicht damit zu rechnen, dass ich Knorr-Bremse noch ewig als Eigentümer überwachen kann“, sagte er dazu.
Thiele, geboren während der Wirren des Zweiten Weltkriegs, wollte mit 77 Jahren kürzertreten. Mehr Zeit mit der Familie verbringen, häufiger nach Uruguay reisen, wo er eine Rinderzucht betreibt.
Aber vor allem wollte er sicherstellen, dass der Hightech-Weltmarktführer aus München in den kommenden Jahrzehnten auch ohne ihn wächst und gedeiht. Thiele prüfte mehrere Optionen – und entschied sich für die Börse. Aktionäre seien, so sein Credo, die wirkungsstärkste Kontrollinstanz für Profitabilität und Nachhaltigkeit. Für diesen Schritt nominiert ihn die WirtschaftsWoche für den Entscheidungsmacher 2019.
Über die Serie
Welche Manager handeln richtungsweisend? Dieser Frage widmen sich die WirtschaftsWoche und die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG in der Serie EntscheidungsMacher. Die Redaktion nominiert Kandidaten, eine Jury wählt den Gewinner. Die erste Auflage 2017 gewann Osram-Chef Olaf Berlien, in der zweiten Runde 2018 siegte TUI-CEO Friedrich Joussen. Nun geht der Wettbewerb in die dritte Runde. Bereits nominiert: Oliver Blume (Porsche) und Rolf Buch (Vonovia).
Auch weil er auf eine erstaunliche Karriere zurückblicken kann. Jurist Thiele stieg 1969 bei Knorr-Bremse als Patentsachbearbeiter ein, übernahm nach drei Jahren die Abteilung und kurz darauf den Bereich Nutzfahrzeuge. Nur zehn Jahre später zog er als Vertriebschef in den Vorstand ein. 1985 dann der vorläufige Höhepunkt: „HHT“, so sein interner Rufname, wird Vorstandschef.
Die meisten Karrieren würden hier enden, aber Thiele ging ins Risiko. Nach einem Streit zwischen den Knorr-Erben kaufte er den zerstrittenen Eigentümern das Unternehmen ab. Von da an sei er „von der Vorstellung besessen“ gewesen, „aus diesem sehr kleinen Familienunternehmen ein Weltunternehmen zu machen“.
Diesem Gedanken ordnete er fortan alles unter. Thiele trennte sich von defizitären Sparten wie dem Dieselmotorgeschäft und setzte aufs Kerngeschäft: die Weiterentwicklung von Bremsen, die mit Druckluft eine gewaltige Kraft auf rollende Räder entfalten, sei es auf Gleisen, sei es auf Asphalt. Thiele, der Managerseminare für Zeitverschwendung hält und lieber seinem Verstand und seiner Erfahrung vertraut, kaufte Wettbewerber auf und steigerte den Marktanteil binnen drei Jahrzehnten auf 50 Prozent im Geschäft mit Zug- und 40 Prozent mit Lkw-Bremsen. Der Umsatz erhöhte sich um das 20-Fache auf 6,2 Milliarden Euro.
Bis heute profitiert das Unternehmen davon, dass Thiele früh in internationale Märkte expandierte. Schon in seinem ersten Jahr als Knorr-Bremse-Eigentümer eröffnete er einen Standort in Hongkong. 1989 folgte der erste Großauftrag. Seitdem liefert das Unternehmen etwa die Bremsen für die Metro in Shanghai. Für die Zukunft sieht sich Knorr-Bremse gut gerüstet. China will ein Schienennetz nach Europa bauen. Und Knorr-Bremse bietet Bremssysteme, die für sämtliche Standards entlang der Seidenstraße zertifiziert sind.