Als Wladimir Putin entschied, dass ein Teil der Ukraine künftig zu Russland gehören sollte, hatte das nicht nur Auswirkungen auf das Leben der dortigen Bevölkerung – sondern auch auf die Unternehmen vor Ort. Es blieben nur noch zwei Möglichkeiten: ausharren und hoffen, dass der Krieg beendet wird? Oder aufgeben und sich möglichst schnell aus dem Markt zurückziehen?
Opel-Chef Karl-Thomas Neumann entschied sich für Letzteres. Im März verkündete der Autobauer seinen Abschied aus Russland. Die meisten der 180 Filialen machten zu, mehr als 1000 Mitarbeiter im Werk St. Petersburg mussten gehen. Geschätzte Kosten des Rückzugs: rund 600 Millionen Dollar.
Ein gutes halbes Jahr später weiß Karl-Thomas Neumann: Die Entscheidung war richtig, die Krise hält bis heute an. Doch damals war das unklar, Neumann stand unter großem Druck. Der Manager handelte trotzdem. Oder besser gesagt: genau deswegen. „Wer als Führungskraft Everybody’s Darling sein will, bleibt nicht lange Führungskraft“, sagt er. „Ich bin weit davon entfernt, zu glauben, dass ich die besten Entscheidungen alleine treffe. Doch am Ende des Tages bin ich es, der dafür geradestehen muss.“
Heute sind flache Hierarchien angesagt
Solch beherzte Sätze hört man in diesen Tagen selten auf Deutschlands Chefetagen. Verstummte doch mit dem Ex-VW-Chef Martin Winterkorn der vermutlich letzte Dax-Patriarch. Der Manager war dafür bekannt, über jede einzelne Schraube zu bestimmen. Die Aufgabenverteilung war eindeutig: er – der König an der Spitze. Die anderen – seine Untertanen. Winterkorns Anweisungen regneten munter von oben nach unten herab, wo sie widerspruchslos befolgt wurden.
Dieses System als rückschrittlich zu bezeichnen wäre untertrieben. Erst recht in einer Zeit, in der die meisten Unternehmen flache Hierarchien und mündige Mitarbeiter loben. Sich sogar manche fragen, ob es überhaupt noch einen Manager braucht – oder ob der Schwarm nicht sowieso intelligenter ist als das Individuum. Es war schon mal leichter, Chef zu sein.
Entscheidungen treffen wird schwieriger
„Es wird für Manager immer schwieriger, Entscheidungen zu treffen“, sagt auch Rick Vogel, BWL-Professor mit Schwerpunkt Public Management an der Universität Hamburg. „Dabei ist das eine der wichtigsten Fähigkeiten für Führungskräfte.“ Schuld daran seien unter anderem Digitalisierung und Globalisierung, die wiederum zu komplexen Geschäftsmodellen führen und das Tempo erhöhen – das bleibt nicht folgenlos.
Besser entscheiden
Hätte eine Fehlentscheidung ernsthafte, unwiderrufliche Konsequenzen? Stehen Jobs auf dem Spiel? Falls nein – dann trauen Sie sich!
Nehmen Sie die Position eines hartnäckigen Kritikers ein: Was können Sie aus seinen Argumenten lernen?
Stellen Sie sich auch mal andere Fragen: Womit rechnen Sie keinesfalls – und wie reagieren Sie, falls es trotzdem passiert?
Schlafen Sie eine Nacht drüber: So kann Ihr Unterbewusstsein das Problem durchdringen.
Seien Sie skeptisch im Hinblick auf Daten und Dogmen: Vielleicht hatte der frühere Erfolg in Wahrheit andere Gründe? Ursache und Wirkung werden gerne mal verwechselt.
Einer Studie der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin zufolge klagen 48 Prozent aller Führungskräfte über mehr Stress in den vergangenen zwei Jahren. Dabei gaben nur fünf Prozent an, qualitativ überfordert zu sein – 21 Prozent hingegen klagten über quantitative Überforderung. Der Personaldienstleister Hays kommt zu einem ähnlichen Ergebnis: 52 Prozent der Personalverantwortlichen empfinden den Umgang mit der steigenden Komplexität als größte Herausforderung.
Input überfordert uns
Kein Wunder: Das Internet verschafft uns Zugang zu einer Unmenge an Informationen, eigentlich müssten wir schlauer sein als je zuvor. Doch anstatt aufgrund einer besseren Datenlage auch bessere Entscheidungen zu treffen, sind die meisten schlichtweg überfordert. Die US-Psychologin Sheena Iyengar von der Columbia Business School nennt dieses Phänomen Choice Overload Effect. Menschen fühlen sich von vielen Optionen überfordert – und das Gehirn weiß vor lauter Möglichkeiten nicht mehr weiter.
„Uns stehen zwar mehr Informationen zur Verfügung, aber das ist kein echtes Wissen“, sagt Experte Vogel.
Kopf oder Bauch?
Für Manager ist daher essenziell, das Wichtige vom Unwichtigen zu unterscheiden. Und den Zeitpunkt zu erkennen, an dem genug Daten gesammelt und Meinungen ausgetauscht wurden. „Zu viele Informationen können der Entscheidungsfindung auch schaden“, sagt Opel-Chef Neumann. Er spricht von einer permanenten Kraftprobe zwischen Bauch und Verstand, die mit zunehmendem Alter aber immer häufiger der Bauch gewinnt. „Das nennt man wohl Erfahrung“, sagt er.
Eine aktuelle Studie gibt ihm recht: Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung in Berlin und der Universität Basel sind überzeugt, dass die bevorzugte Entscheidungsart davon abhängt, wie hoch man die eigene Kompetenz einschätzt. „Haben wir viel Erfahrung, vertrauen wir bei Entscheidungen eher unserem Bauchgefühl“, sagt Studienautor Thorsten Pachur. „Dies könnte auch bedeuten, dass ältere Menschen aufgrund ihrer größeren Erfahrung mehr zu Bauchentscheidungen neigen als jüngere.“
Wann Überzeugungen zu Handlungen führen
Ohne einen erkennbaren, individuellen, hohen und relativ sicheren Gewinn, ändert kein Mensch sein gewohntes Verhalten. Dieser Gewinn muss und sollte nicht nur materiell sein. Materielle Belohnungen wirken schnell und sättigen schnell. Sozialer Gewinn (zum Beispiel Anerkennung) wirkt nachhaltiger. Die einzige nicht sättigende Belohnung ist die intrinsische, die man sich selbst gibt.
Ins Blaue hinein ändern wir unser Leben nicht gern. Die Umsetzung der Neuerung muss daher klar vorgezeichnet und praktikabel sein.
Pioniere können und wollen nur die wenigsten Menschen sein. Die meisten anderen brauchen Vorbilder, denen sie nacheifern können. Und die müssen vor allem glaubwürdig sein.
Die erwartbaren Widerstände gegen das neue Leben sollten nicht zu groß sein. Das Festhalten an Gewohntem trägt eine starke Belohnung in sich. Der Anreiz muss doppelt so stark sein, wie die Bremskräfte.
Was passiert, wenn Manager ihrer Intuition nicht mehr trauen und zu lange am Bewährten festhalten, zeigt das Beispiel Deutsche Bank. Die ehemalige Doppelspitze aus Anshu Jain und Jürgen Fitschen hoffte darauf, dass das Investmentbanking wieder so viel Gewinn machen würde wie vor der Finanzkrise; rief einen Kulturwandel aus, ohne diesen entschlossen umzusetzen; und verärgerte die Bankenaufseher durch die zögerliche Aufklärung von Skandalen. Nun muss es der Nachfolger richten. John Cryan räumt gründlich auf, Tausende Angestellte verlieren ihren Job.
Internet macht Entscheidungen angreifbar
Zauderer haben es heutzutage besonders schwer an der Spitze, da die CEOs ihr Handeln längst nicht mehr nur vor ihrem Aufsichtsrat und der Presse rechtfertigen müssen. Das Internet hat das Wissen demokratisiert. Nicht nur Manager können sich die entsprechenden Informationen besorgen. „Das macht Entscheidungen angreifbar“, sagt Peter Brandl. Der ehemalige Pilot berät Manager heute dabei, wie sie entschlossener vorgehen können.
Keine leichte Aufgabe, erst recht bei unpopulären Entscheidungen. Wer stellt sich schon gerne der Öffentlichkeit, nachdem er Tausende von Mitarbeitern entlassen hat? Brandl rät Führungskräften deshalb, sich einmal im Jahr mit ihren Mitarbeitern zusammenzusetzen und die schlimmsten Szenarien durchzusprechen. Der Vorteil: Da es sich nur um ein Gedankenexperiment handelt, werden Entscheidungen rationaler und vor allem angstfrei getroffen. Und sind somit oft besser als solche, die im Affekt getroffen werden.
Alle Entscheidungen absichern funktioniert nicht
Ein weiterer Feind der Entschlossenheit ist die vorherrschende Absicherungskultur unter Managern. Die Zeit der Alleinherrscher wie einst Daimler-Chef Jürgen Schrempp ist vorbei. Heute glaubt kaum einer mehr, ein globales Unternehmen im Alleingang steuern zu können – Gott sei Dank, einerseits. Andererseits hat das auch Nachteile: „Manager wollen immer mehr in Gremien entscheiden“, sagt der Hamburger Professor Rick Vogel. „Das verlangsamt die Prozesse und verwässert Entscheidungen, da sie am Ende immer nur ein Kompromiss sind.“
Mut zu Fehlern
Dabei ist eine der Grundvoraussetzungen für gute Entscheidungen der Mut zu Fehlern – doch dafür braucht es im Unternehmen eine Vertrauenskultur. Das Beispiel VW zeigt, wie man sie verhindert: indem man Mitarbeiter klein hält und Widerspruch untersagt. Doch ein Kulturwandel ist gar nicht so einfach. Vor allem weil ein CEO heute nur noch durchschnittlich etwa fünf Jahre auf seinem Posten bleibt. Das ergab eine Studie der Beratung strategy&, die die Verweildauer von Vorstandsvorsitzenden der weltweit 2500 größten börsennotierten Unternehmen untersuchte. Mit dieser Perspektive wundert es nicht, dass so mancher Manager in seiner Amtszeit die wichtigen Projekte aufschiebt und allenfalls ein Revolutiönchen wagt anstatt den ganz großen Coup.
Was gute Führung ausmacht
Laut einer Umfrage der "Initiative Neue Qualität der Arbeit" unter 400 Führungskräften sind Flexibilität und Diversität sind weitgehend akzeptierte Erfolgsfaktoren. Das Arbeiten in beweglichen Führungsstrukturen, mit individueller Zeiteinteilung und in wechselnden Teamkonstellationen ist aus Sicht der meisten Führungskräfte bereits auf einem guten Weg. Die Idee der Förderung von Unterschiedlichkeit ist demnach in den Unternehmen angekommen und wird umgesetzt. Die Beiträge zur Führungskultur gerade aus weiblichen Erfahrungswelten werden äußerst positiv bewertet.
Prozesskompetenz ist für alle das aktuell wichtigste Entwicklungsziel. 100 Prozent der interviewten Führungskräfte halten die Fähigkeit zur professionellen Gestaltung ergebnisoffener Prozesse für eine Schlüsselkompetenz. Angesichts instabiler Marktdynamik, abnehmender Vorhersagbarkeit und überraschender Hypes erscheint ein schrittweises Vortasten Erfolg versprechender als die Ausrichtung des Handelns an Planungen, deren Verfallsdatum ungewiss ist.
Selbst organisierende Netzwerke sind das favorisierte Zukunftsmodell. Die meisten Führungskräfte sind sich sicher, dass die Organisation in Netzwerkstrukturen am besten geeignet ist, um die Herausforderungen der modernen Arbeitswelt zu bewältigen. Mit der kollektiven Intelligenz selbst organisierender Netzwerke verbinden diese Führungskräfte die Hoffnung auf mehr kreative Impulse, höhere Innovationskraft, Beschleunigung der Prozesse und Verringerung von Komplexität.
Hierarchisch steuerndem Management wird mehrheitlich eine Absage erteilt. Die meisten Führungskräfte stimmen darin überein, dass Steuerung und Regelung angesichts der Komplexität und Dynamik der zukünftigen Arbeitswelt nicht mehr angemessen sind. Zunehmende Volatilität und abnehmende Planbarkeit verringern die Tauglichkeit ergebnissichernder Managementwerkzeuge wie Zielemanagement und Controlling. Überwiegend wird die klassische Linienhierarchie klar abgelehnt und geradezu zum Gegenentwurf von „guter Führung“ stilisiert.
Kooperationsfähigkeit hat Vorrang vor alleiniger Renditefixierung. Über die Hälfte der interviewten Führungskräfte geht davon aus, dass traditionelle Wettbewerbsstrategien die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit erreicht haben und das Prinzip Kooperation weiter an Bedeutung gewinnt. Nur noch 29,25 Prozent der Führungskräfte präferieren ein effizienzorientiertes und auf die Maximierung von Profiten ausgerichtetes Management als ihr persönliches Idealmodell von Führung.
Persönliches Coaching ist ein unverzichtbares Werkzeug für Führung. Mit dem Übergang zur Netzwerkorganisation schwindet der selbstverständliche Schonraum hierarchischer Strukturen. Die Durchsetzung eigener Vorstellungen über Anweisung werde immer schwieriger oder sei gar nicht mehr möglich. Mächtig ist nur, was auf Resonanz trifft. Einfühlungsvermögen und Einsichtsfähigkeit werden dadurch immer wichtiger. Alle Akteure, ob nun Führungskraft oder geführte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, bräuchten im Unternehmen mehr Reflexion und intensive Entwicklungsbegleitung.
Motivation wird an Selbstbestimmung und Wertschätzung gekoppelt. Die Führungskräfte gehen davon aus, dass die motivierende Wirkung von Gehalt und anderen materiellen Anreizen tendenziell abnimmt. Persönliches Engagement wird mehr mit Wertschätzung, Entscheidungsfreiräumen und Eigenverantwortung assoziiert. Autonomie werde wichtiger als Statussymbole und der wahrgenommene Sinnzusammenhang einer Tätigkeit bestimme den Grad der Einsatzbereitschaft.
Gesellschaftliche Themen rücken in den Fokus der Aufmerksamkeit. In der intuitiven Schwerpunktsetzung der Führungskräfte nimmt die Stakeholder-Perspektive des Ausgleichs der Ansprüche und Interessen von verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen einen wachsenden Raum ein. Über 15 Prozent aller frei genannten Beschreibungen im Führungskontext beschäftigen sich mit Fragen der gesellschaftlichen Solidarität und der sozialen Verantwortung von Unternehmen.
Für den Psychologen Gerd Gigerenzer liegt der Grund für ein solches Verhalten auch in der Unternehmensstruktur begründet. In seinem Buch „Risiko“ beschreibt er, wie Menschen besser entscheiden können. Das Problem in Unternehmen: Viele Manager treffen eben nicht mehr die beste Entscheidung, sondern nur die zweitbeste – die sie selbst schützt, falls etwas schiefgeht.
Sicher ist nicht immer besser
In Familienunternehmen sei das anders, sagt Gigerenzer. Dort stehe der langfristige Fortbestand im Fokus statt kurzfristiger Gewinne. In Konzernen kommen noch die verstärkten Kontrollmechanismen hinzu. „Unsere Corporate-Governance-Struktur führt dazu, dass zunehmend risikoavers agiert wird“, sagt ein Manager, der namentlich nicht genannt werden will. „Ich sehe das sehr kritisch.“ Denn die sichere Lösung sei für das Unternehmen eben nicht immer die beste.
Die Experten sind sich trotzdem einig: Das ist immer noch besser, als gar nicht zu handeln. „Manager sollten lieber eine falsche Entscheidung treffen als keine“, sagt Coach Brandl. „Eine Fehlentscheidung zieht die falschen Konsequenzen nach sich und wird somit sichtbar.“ Das Unternehmen kann dementsprechend gegensteuern. Handelt jedoch niemand, droht im schlimmsten Fall das gleiche Schicksal wie dem Versandhaus Quelle.
Trotz zunehmender Konkurrenz aus dem Internet werkelten die Manager, allen voran der langjährige Karstadt-Quelle-Chef Walter Deuss, munter nach dem Grundsatz weiter: Es funktioniert ja noch. Statt eine Strategie zu entwickeln und harte Einschnitte zu wagen, senkte Deuss lieber Preise oder verkaufte Immobilien. Das Ergebnis? Bei Quelle funktioniert nichts mehr, das Versandhaus gibt es nicht mehr. Aber wenigstens ist keiner schuld.