Die Begeisterung an sich selbst ist vor allem prominenten Zeitgenossen selten fremd. Napoleon etwa erklärte 1811 auf dem Höhepunkt seiner Macht: „Noch drei Jahre, und ich bin Herr über das Universum.“ Vier Jahre später erlebte er im Städtchen Waterloo seine finale Niederlage. Beatles-Sänger John Lennon verkündete 1966 vollmundig: „Wir sind jetzt populärer als Jesus.“ Nun ja. Und Modezar Karl Lagerfeld antwortete 2008 auf die Frage, warum er kein Handy besitzt: „Telefone sind etwas fürs Personal.“
Hand aufs Herz: Rutschen Ihnen solche Sprüche auch manchmal raus? Vermutlich werden Sie diese Frage verneinen – und genau da beginnt das Problem, findet zumindest der Finne Ari Turunen. In seinem neuen Buch mit dem originellen Titel „Kann mir bitte jemand das Wasser reichen?“, widmet sich der Wissenschaftsjournalist der Geschichte der Arroganz. Denn die kommt nicht nur in prominenteren Breitengraden vor. Ein bisschen Bonaparte steckt doch in jedem von uns.
Überall finden sich Schnösel, die sich für etwas Besseres halten; andere von oben herab behandeln; sich für ein „Hallo“ auf der Straße oder im Büro zu fein sind – nicht aus Versehen, sondern aus Kalkül. Diese charakterliche Deformation betrifft Nachbarn ebenso wie Kollegen. Doch vor allem bei Menschen mit Macht und Verantwortung gibt es diese vor Selbstbewusstsein strotzenden Egomanen überdurchschnittlich oft. Bloß: Warum?
Macht Erfolg überheblich?
Stimmt der Spruch, demzufolge Niveau „nur von unten wie Arroganz aussieht“, etwa doch? Macht Erfolg die Menschen überheblich? Oder hilft Arroganz gar beim beruflichen Aufstieg? Und wo liegt eigentlich die Grenze zwischen gesundem Selbstbewusstsein und gefährlicher Überheblichkeit?
Psychologen forschen seit Jahrzehnten zu Themen wie Narzissmus und Selbstüberschätzung. „Eine Definition für Arroganz ist aber schwierig“, sagt Claas-Hinrich Lammers, ärztlicher Direktor der Psychiatrie an der Asklepios Klinik Nord in Hamburg. „Denn sie ist keine psychische Krankheit, die genauen Maßstäben unterliegt.“
Zwei Merkmale für Arroganz
Grob gesagt, lässt sich Arroganz an zwei Merkmalen ablesen: Erstens hält sich der Überhebliche für besser als andere – ob zu Recht oder nicht, spielt keine Rolle. Im beruflichen Kontext geht es um Leistung, er kann aber auch seine Religion für überlegen halten oder seinen Reichtum für unübertroffen.
Daraus resultiert das zweite Merkmal: Von seiner Vortrefflichkeit überzeugt, lässt er andere spüren, wie er die Rangverteilung sieht. Er stellt sich über seine Mitmenschen und grenzt sich bewusst von ihnen ab. Wie Volkswagen-Chef Martin Winterkorn, der Mitarbeiter duzt, während sie ihn mit „Herr Doktor Winterkorn“ ansprechen.
Wo Arroganz anfängt, ist umstritten
Wo Arroganz genau anfängt, ist ebenfalls umstritten. Autor Turunen schreibt nur: „Gesundes Selbstvertrauen wächst sich leicht zu krankhafter Überheblichkeit aus.“ Selbstbewusstsein ist also die Vorstufe zur Arroganz, Selbstüberschätzung ihre fatale Steigerung.
Während sie früher meist dem Adel zugeschrieben wurde, finden sich große Egos und distanzwahrende Souveränität heute, in einer Zeit ohne das System gesellschaftlicher Klassen, vor allem in Unternehmen. Kein Wunder: „Hierarchie ist der perfekte Nährboden für Arroganz“, sagt Astrid Schütz, Professorin für Persönlichkeitspsychologie an der Universität Bamberg. Denn sie entsteht vor allem dort, wo Rangordnungen akzeptiert, ja sogar notwendiger Teil des Systems sind. „In einer egalitären Gesellschaft wäre der Überhebliche hingegen ein Sonderling.“
In hierarchisch geprägten Chefetagen ist er das nicht. Natürlich träumen Angestellte von einem netten und verständnisvollen Chef, der ihnen zuhört und sie für ebenbürtig hält: „Das ist Wunschdenken“, sagt Psychiater Lammers, „und selten zu realisieren.“ Er hat von Berufswegen häufig mit Narzissten zu tun, viele von ihnen sind beruflich sehr erfolgreich. Deshalb glaubt er: „Eine gewisse Arroganz gehört leider zum Geschäft.“ Topmanager müssten ständig Anfeindungen und Auseinandersetzungen standhalten. „Nur wenn jemand besonders von sich überzeugt ist, bricht er unter dem Druck nicht zusammen.“ Vor allem bei Gründern sei eine gewisse Selbstüberschätzung nötig, sagt auch Astrid Schütz. „Würden alle ihr Können zu zaghaft einschätzen, gäbe es keine Innovationen.“
Gesundes Selbstbewusstsein ist beim beruflichen Aufstieg hilfreich
Bestes Beispiel ist Oliver Samwer, CEO der Beteiligungsgesellschaft Rocket Internet. Er hat zahlreiche Online-Start-ups wie Zalando groß gemacht. Deshalb steht Samwer auch dazu, dass er sein Geschäftsmodell für ziemlich clever hält. Bei Bedarf gerne öffentlich: „Geschäfte sind Mittelalter. Sie wurden nur gebaut, weil es kein Internet gab“, sagte Samwer im Juni 2014 beim Konsumgüterforum CGF. Unter den Zuhörern: Metro-Chef Olaf Koch und sein französisches Pendant, Carrefour-CEO Georges Plassat. „Sie verstehen das nicht“, fuhr er fort, „weil Sie zu alt sind und zu alte Kunden befragen.“
Ob der Unternehmer ohne ein großes Ego überhaupt so weit gekommen wäre? Fraglich. Zweifelsohne ist ein gesundes Selbstbewusstsein beim beruflichen Aufstieg hilfreich. Wer sich selbst für besonders intelligent und mächtig hält und das entsprechend selbstbewusst vermittelt, wird von seinen Mitmenschen ebenso wahrgenommen – egal, ob es um Angestellte oder Investoren geht. Mit Arroganz lassen sich Schwächen übertünchen und das Umfeld einschüchtern.
Selbstüberschätzung
Zu diesem Ergebnis kamen auch Forscher der Universität in Berkeley, die 2012 die Geografiekenntnisse von 76 Studenten testeten. Jeder von ihnen sollte auf einer Karte ohne Bundesstaatsgrenzen 15 US-Städte markieren und anschließend sein eigenes Wissen einschätzen. In einer zweiten Runde wiederholten die Studenten das Experiment, diesmal in Paaren. Danach sollten sie die Fähigkeiten ihres Partners bewerten. Das Ergebnis: Wer sich selbst überschätzte, dem traute auch sein Gegenüber mehr zu.
Dieter Frey, Professor für Sozialpsychologie an der LMU München, spricht in diesem Kontext von einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung. „Wenn man permanent demonstriert, wie toll man selbst ist und wie mittelmäßig die anderen sind, kann das im Job hilfreich sein, vor allem in Konzernen.“
Selbstbewusstsein vermittelt Sicherheit
Psychiater Lammers geht sogar noch weiter. Er glaubt, dass sehr selbstbewusste Chefs sogar bei vielen Mitarbeitern gut ankommen, weil sie den Angestellten Sicherheit vermitteln. Das gilt umso mehr in Zeiten, in denen die Digitalisierung ganze Branchen umkrempelt und weltweite Krisen Wachstumsprognosen infrage stellen. „Vorgesetzte, die offen selbstkritisch, nachdenklich oder gar zögerlich agieren, kommen deshalb bei den Mitarbeitern oftmals nicht gut an.“
Dieses Kalkül scheint auch im Kampf um die Kandidatur für die US-Präsidentschaft aufzugehen. Deutsche Beobachter staunen, wenn Immobilienunternehmer Donald Trump vollmundig verkündet, der großartigste Präsident zu werden, den Gott je gesehen habe. Im eigenen Lager kommen die Sprüche des Republikaners gut an. Einer Umfrage zufolge liegt er mit 32 Prozent der Stimmen derzeit vor seinen parteiinternen Konkurrenten. Ob das Verhalten arrogant ist, liegt also nicht am Absender – sondern auch an der Interpretation des Empfängers.
Die 1978 verstorbene Ethnologin Margaret Mead stellte schon in einer Studie in den Fünfzigerjahren fest, dass Briten Amerikaner häufig für Angeber halten. Umgekehrt gelten die Briten bei Amerikanern als hochnäsig. Mead erklärte diese Beobachtung damit, dass US-Jugendliche von Beginn an lernen, ihre Erfolge stolz zu präsentieren. Briten hingegen pflegen das Understatement.
Souveränes Auftreten oder Arroganz?
Im Büro gibt es zwangsläufig solche Missverständnisse, auch ohne kulturelle Unterschiede. „Je weniger Selbstvertrauen der Empfänger hat, umso eher wird er das Verhalten des Senders als arrogant beurteilen“, sagt Frey. Ein selbstbewusster Ansprechpartner interpretiere überhebliches Verhalten vielleicht sogar als souverän, weil er sich davon nicht bedroht fühle.
Wo sich Alphamännchen und -weibchen auf der Arroganzskala befinden, hängt also stark von der Firmenkultur ab. Große Unternehmensberatungen etwa rekrutieren bevorzugt jene Nachwuchselite, die diesen Anspruch auch selbst vor sich herträgt und beim Kunden von Anfang an durch souveränes Auftreten punktet. Würde jemand mit diesem Ego in einer Pflegeeinrichtung anheuern, hätte er schnell den Ruf des arroganten Fatzkes.
Gemeinschaftsgefühl und Zielorientierung gegen Rangkämpfe
Denn dort dominieren Frauen das Geschehen. Sie setzen tendenziell eher auf Gemeinschaftsgefühl und Zielorientierung, während es in der von Männern geprägten Wirtschaft meist um Rangkämpfe geht – zumindest zwischen den Zeilen. Wer in dieser Umgebung nicht regelmäßig demonstriert, dass er mehr drauf hat als der Rest, verliert Ansehen.
Das hat auch der Unternehmensberater Peter Modler erkannt und bietet Arroganz-Trainings für Frauen an. Er hält „situative Arroganz“ für ein legitimes Instrument, um sich beim Gegenüber Gehör zu verschaffen. Das beginnt schon beim Betreten des Konferenzraums: „Verstehen Sie ihn als Bühne. Bleiben Sie kurz stehen, begrüßen Sie die Leute mit fester Stimme.“ Außerdem sollte man permanent den eigenen Rang verdeutlichen, auch wenn es gerade Frauen lächerlich erscheint. Die Machtverhältnisse müssten immer klar sein.
Die Menschen entlarven schnell, ob Arroganz pures Gehabe ist
Weil er diese Kniffe beherrscht, steigt der Arrogante zu Beginn schnell auf. Das Problem ist nur: Im Laufe der Jahre kann Überheblichkeit zum Verhängnis werden.
Eine Studie des kanadischen Sozialpsychologen Delroy Paulhus belegt dies. 1998 versammelte er 24 Diskussionsgruppen mit vier bis sechs Teilnehmern sieben Wochen lang zu Gesprächen. Nach der ersten und der letzten Sitzung sollten sich die Teilnehmer gegenseitig beurteilen. Diskutanten, die zu Selbstüberschätzung neigten, wurden zu Beginn als umgänglich und kompetent angesehen. Doch nach dem letzten Treffen schnitten sie schlechter ab. Vor allem Eigen- und Fremdwahrnehmung klafften auseinander.
Persönlichkeitspsychologin Schütz versteht die Studie als Warnung an alle Angestellten. Sowohl Vorgesetzte als auch Kollegen ließen sich zunächst leicht blenden. „Ein bisschen Trommeln am Anfang ist okay, damit Sie nicht in der zweiten Reihe verschwinden“, sagt sie. „Aber dann müssen Sie liefern.“ Denn Mitmenschen entlarven schnell, ob Arroganz pures Gehabe ist oder der Aufsteiger sich zu Recht für überragend hält.
Gefährlich wird es dann, wenn das Selbst- nicht mehr zum Fremdbild passt, wenn aus Arroganz Selbstüberschätzung wird.
Uber-Chef Travis Kalanick bemerkte diese Entwicklung anscheinend noch rechtzeitig. Darauf deuten zumindest seine jüngsten Aussagen hin, in denen er verbal abrüstet. Der Gründer des Taxi-Rivalen hatte seine Kontrahenten in der Vergangenheit immer wieder als „Arschloch namens Taxi“ bezeichnet und Fahrverbote von Gerichten ignoriert, passend zum Image des von sich selbst eingenommenen Silicon-Valley-Revoluzzers. Seit Anfang des Jahres schlägt er jedoch zahmere Töne an. Offenbar hat er begriffen, dass in Europa mit Kompromissbereitschaft mehr zu erreichen ist. Vorübergehend hat er gar den Streit mit dem Taxigewerbe beigelegt: In Deutschland sind nur noch Fahrer mit Personenbeförderungsschein unterwegs.
Uniabsolventen tappen gerne in die Arroganzfalle
Andere sind weniger umsichtig. Gerne tappen Uniabsolventen in die Arroganzfalle. Eine Umfrage der Beratung Kienbaum unter 460 Personalleitern ergab, dass High Potentials vor allem über ihr Ego stolpern. Im Falle des Scheiterns sei bei 94 Prozent Selbstüberschätzung schuld. „Ist jemand arroganter, als es seinem Rang entspricht, kann das fatale Folgen haben“, sagt Coach Modler.
Doch dieses Schicksal widerfährt auch erfahrenen Managern. Denn je länger der Erfolg anhält, umso mehr sind sie von sich überzeugt. Sie werden taub für Kritik und betrachten ihre Entscheidungen nicht mehr aus anderen Perspektiven. Was bedeutet das für meine Mitarbeiter? Wie reagieren die Aktionäre? Das sollten sich auch die Besten fragen – und erst recht jene, die sich dafür halten.
Spirale der Arroganz
Denn einmal in der Spirale der Arroganz gefangen, hat schon so mancher Manager seinen Chefposten verloren. Etwa der ehemalige Porsche-Chef Wendelin Wiedeking, der den nach Umsatz 14-mal größeren VW-Konzern übernehmen wollte. Oder Thomas Middelhoff, der selbst vor Gericht nicht einsah, dass er seinem Exarbeitgeber Arcandor zu Unrecht Privatflüge in Rechnung gestellt hatte.
Trunken vor Selbstgefälligkeit – so enden nicht nur viele Karrieren, sondern auch griechische Mythen von Antigone bis Ikarus. Darin geht es immer um Helden, die den von Aristoteles propagierten Mittelweg verlassen, damit anecken und sich Zorn zuziehen – früher den der Götter, heute den der Mitarbeiter, Anleger und Kollegen.