Fachkräftemangel Der Fachkräftemangel ist ein Mythos

Quelle: Illustration: Miriam Migliazzi & Mart Klein

Es vergeht kaum eine Woche, in der nicht mindestens ein Unternehmer beklagt, vergeblich nach Personal zu fahnden. Dabei kann von einem Fachkräftemangel keine Rede sein – Unternehmen suchen einfach nicht richtig.

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Die Entscheidung fiel ihm leicht, vielleicht zu leicht. Doch Martin Stegitz war überzeugt, das Richtige zu tun. So kann man sich täuschen. Alles sprach für ihn. Nach dem Studium der Verfahrenstechnik an der TU München plante er jahrelang Großanlagen für die Energie- und Chemiebranche und koordinierte deren Bau. Stegitz stieg schnell auf, verantwortete bis zu 100 Mitarbeiter und ein Budget im dreistelligen Millionenbereich. Als seine Stelle Anfang 2016 aufgrund einer Umstrukturierung wegfiel, zögerte er nicht lange. Stegitz unterschrieb einen Aufhebungsvertrag und kassierte 300.000 Euro Abfindung. Als Ingenieur mit Berufserfahrung und guten Referenzen, da war er sich sicher, würde er überall einen neuen Job finden.

Überqualifiziert oder zu teuer?

Doch auf die Euphorie folgte die Ernüchterung. Stegitz, der seinen richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen möchte, schrieb eine Bewerbung nach der anderen – erfolglos. Irgendwann dämmerte ihm, warum viele Unternehmen über zu wenig qualifiziertes Personal klagen: „Sie suchen nach der Eier legenden Wollmilchsau.“ Immer wieder bekam er zu hören, er sei überqualifiziert – für Stegitz eine euphemistische Umschreibung dafür, dass er seinen potenziellen Arbeitgebern zu teuer war. Dabei hätte er sich sogar von ehedem 170.000 Euro Jahresgehalt auf 150.000 Euro runterhandeln lassen. Bis in die Nähe eines Vertragsabschlusses gediehen die Gespräche trotzdem nie.

„Sie hätten gerne zehn bis 15 Jahre Berufserfahrung, wollen aber maximal 70.000 Euro Jahresgehalt zahlen“, sagt Stegitz: „Das passt nicht zusammen.“ Und so fand er keinen Zugang zum Arbeitsmarkt. Nicht trotz seiner Qualifikation. Sondern ihretwegen.

Wie passt eine solche Geschichte in eine Zeit, in der Unternehmen händeringend und häufig vergeblich nach Mitarbeitern suchen? Handelt es sich bei Stegitz um einen Einzelfall? Oder übertreibt die Wirtschaft ihr Gejammer über Engpässe? Ist der Fachkräftemangel in Wahrheit nur ein Mythos?

Seit Jahren vergeht kaum eine Woche, in der nicht mindestens ein Unternehmer beklagt, vergeblich nach Personal zu fahnden. Unterstützung bekommen die Arbeitgeber von Verbänden und Personalvermittlern, die die Sorgen mit Statistiken und Projektionen bekräftigen. Das Forschungsinstitut Prognos etwa errechnete, dass bis 2030 drei Millionen Arbeitskräfte fehlen werden. Und das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) kommt in seinem MINT-Report über den Arbeitsmarkt für Mathematiker, Informatiker, Naturwissenschaftler und Techniker zu dem Schluss, dass aktuell 237.500 dieser Fachkräfte fehlen. Sieht es wirklich so düster aus? Gibt es die gewünschten Bewerber tatsächlich nicht? Oder geben sich die Unternehmen bei der Suche schlicht zu wenig Mühe?

Karl Brenke spricht, wenn auch rhetorisch etwas schief, Klartext: „Das Geschrei der Unternehmen ist viel heiße Luft.“ Natürlich gebe es in einigen Branchen Engpässe, sagt der Arbeitsmarktexperte des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), und in manchen Bereichen sogar einen Mangel, etwa in der Pflege, im Handwerk oder bei speziellen IT-Berufen.

„Von einem flächendeckenden Fachkräftemangel“, sagt Brenke, „kann aber keine Rede sein.“ Und tatsächlich gibt mancher Personaler auch zu, dass der Mythos vom Fachkräftemangel die eigene Reputation retten könne – als Ausrede für all diejenigen, die offene Stellen nicht schnell genug besetzen können. Auch für Personaldienstleister gibt es kein besseres Verkaufsargument als knappe Arbeitskräfte.

Fachleute wie Brenke kritisieren die Methodik vieler Studien. Für seinen MINT-Report stellt das IW Köln beispielsweise zwei Zahlen einander gegenüber: die der offenen Stellen und die der Arbeitslosen. „Dieser Vergleich sagt aber gar nichts aus“, so Brenke: „Nicht jeder, der einen neuen Job sucht, ist arbeitslos gemeldet.“

Ein guter Indikator für Knappheit sind die Löhne

Die Bundesagentur für Arbeit bestätigt, dass sie nicht unterscheiden könne, ob zwei Stellenanzeigen auf denselben Job hinweisen. Das ist immer dann der Fall, wenn nicht nur der Arbeitgeber seine offene Stelle meldet, sondern auch der Personaldienstleister, den das Unternehmen mit der Suche beauftragt hat. Die Folge: Es gibt zwei Anzeigen für einen Job.

Der einzig zuverlässige Indikator, um Knappheiten am Arbeitsmarkt zu messen, ist für Brenke daher die Lohnentwicklung. „Gäbe es tatsächlich einen Fachkräftemangel“, sagt der Forscher, „müssten die Reallöhne viel stärker steigen.“ Laut Statistischem Bundesamt stiegen die Reallöhne im Jahr 2018 jedoch gerade einmal um ein Prozent.

Fernab der akademischen Diskussion um die richtige Berechnung gibt es aber auch praktische Hinweise darauf, dass der Fachkräftemangel vor allem ein gut vermarktbarer Mythos ist.

Die gängigsten Thesen zum Fachkräftemangel - und ihr Wahrheitsgehalt

Lars Fiehler, Geschäftsführer für Standortpolitik bei der IHK Dresden, hört ständig, wie bedrohlich der Engpass sei. Frage er jedoch genauer nach, entpuppe sich die Knappheit meist als „Mix aus harten Fakten“ und „diffusen Gefühlen“: Tatsächlich stattfindende Produktionsausfälle würden weitaus seltener beklagt als etwa der Rückgang von Bewerbungen. Man dürfe daher „nicht so tun, als würden uns die Menschen ausgehen. Das stimmt einfach nicht.“ Vielmehr müssten Geschäftsführer und Manager nach den Ursachen forschen, warum sie keine geeigneten Mitarbeiter finden.

Keine offenen Stellen in Sachsen?

Solche klaren Worte sind ungewöhnlich für einen IHK-Geschäftsführer, zu dessen Berufsbeschreibung gehört, vor allem für die Belange der Mitgliedsunternehmen einzutreten. Doch Fiehler ist die schmerzhafte Wahrheit lieber als eine wohltuende Lüge. Auch deshalb, weil er in seinem Arbeitsalltag Erfahrungen macht, die dem Mythos widersprechen. Regelmäßig rufen ihn zum Beispiel Menschen aus Sachsen an, die zum Arbeiten in benachbarte Bundesländer pendeln. Sie würden gerne zurück in die Heimat, finden dort aber keine Stelle.

Recruiter müssen kreativer werden

Solche Telefonate brachten Fiehler auf eine Idee. Zwischen Weihnachten und Neujahr veranstaltet die IHK Dresden seit 2014 mit der Handwerkskammer und dem Landkreis Bautzen Treffen zwischen rückkehrwilligen Pendlern und Betrieben, die vom Personalmangel gebeutelt sind. Rund 1600 Arbeitnehmer und 120 Unternehmen fanden sich in den folgenden drei Jahren ein – „doch daraus ist nur eine Handvoll Arbeitsverträge entstanden“, sagt Fiehler. Sieht so Fachkräftemangel aus?

Das fragt sich von Zeit zu Zeit auch Carolin Unger. Die 38-Jährige leitet das Personalmarketing und Recruiting beim Technologieunternehmen Rohde & Schwarz, das unter anderem Rundfunksendetechnik und Körperscanner für Flughäfen herstellt. Natürlich sei es schwieriger als noch vor einigen Jahren, geeignete Arbeitskräfte zu finden. Eine echte Bedrohung kann sie aber nicht erkennen: „Wer seine Hausaufgaben macht, findet ausreichend Arbeitskräfte.“

Erstens gehe es darum, auf die Bedürfnisse der Beschäftigten einzugehen und sie an das Unternehmen zu binden. „Zufriedene Mitarbeiter machen die beste Werbung“, sagt Unger. Zweitens müsse Rohde & Schwarz bei der Suche nach besonders gefragten Nachrichtentechnikern und Softwareentwicklern kreativ werden. Im März 2017 etwa lockte das Familienunternehmen auf der Cebit mit einem Cybersecurity-Quiz junge Informatiker an seinen Stand. Darin mussten die Teilnehmer gegen einen Hacker antreten und möglichst viele Fachfragen richtig beantworten. 450 Talente machten mit, 110 unterhielten sich im Anschluss mit Mitarbeitern über das Unternehmen. „Mit solchen Aktionen werden Sie bei der Zielgruppe sichtbar“, sagt Unger.

Trotzdem setzen nur wenige Mittelständler auf solche kreativen Methoden. Schade eigentlich, findet Martin Gaedt. Der Berater und Autor veranstaltet seit Jahren Seminare darüber, wie Unternehmen an die scheinbar nicht vorhandenen Fachkräfte kommen. „Arbeitgeber bringen Bewerbern immer noch nicht genügend Wertschätzung entgegen“, resümiert Gaedt. Die Bewerbungsverfahren dauerten zu lange – und wenn die Personaler Bewerbern überhaupt mal eine Absage schickten, fielen die zu pauschal aus und seien damit wenig hilfreich: „Ein schlecht behandelter Kandidat bewirbt sich kein zweites Mal.“ Zudem würden Unternehmen manche Personengruppen schlicht ignorieren, sagt Gaedt: Hunderttausende Studienabbrecher zum Beispiel, Arbeitskräfte aus dem EU-Ausland oder Eltern, die in den Beruf zurückwollen.

Der Bewerber wertschätze und annehmbare Konditionen biete, habe gute Chancen, die richtigen Angestellten zu finden. Darunter versteht Gaedt weder kostenlose Müslibars, Betriebskitas oder teure Firmenwagen, sondern mitunter so profane Dinge wie einen unbefristeten Arbeitsvertrag. Denn trotz angeblicher Personalengpässe tun sich deutsche Unternehmen offenbar schwer, Mitarbeitern von Anfang an eine langfristige Perspektive zu bieten. 2018 erhielten nach Angaben der Bundesregierung vier von zehn der neu eingestellten sozialversicherungspflichtig Beschäftigten einen befristeten Arbeitsvertrag. Wäre es nicht besser, die hart umworbenen Arbeitskräfte möglichst eng an sich zu binden, sobald man sie erfolgreich angelockt hat?

Manche Fachkräfte wollen darauf offenbar nicht länger warten. Darauf deuten Zahlen des Statistischen Bundesamtes. 2018 haben netto 60.000 Deutsche die Bundesrepublik verlassen – viele, um im Ausland ihr Arbeitsglück zu finden.

Einer von ihnen ist Tom Völler. Der 27-jährige Mediziner forscht derzeit an der ETH Zürich; nach Ablauf seines Dreijahresvertrags will er zum Facharzt aufsteigen. Ob er dafür nach Deutschland zurückkehrt? Unklar. „Ich gehe dorthin, wo ich die besten Konditionen bekomme“, sagt der Familienvater. Dazu gehören für ihn neben einer Kinderbetreuung geregelte Arbeitszeiten und weniger Bürokratie. „Ich will als Arzt arbeiten“, sagt Völler, „nicht als Krankenhausorganisator.“ In Deutschland müssten Ärzte häufig Aufgaben übernehmen, die nichts mit der medizinischen Ausbildung zu tun hätten: Befunde anfordern, Verlegungen organisieren. In Großbritannien, nur zum Beispiel, würden derlei Arbeiten von Clinical Case Managern übernommen. Den Ärzten bliebe so mehr Zeit für ihre eigentliche Tätigkeit. Bürokratie, unzählige Überstunden und hohe Arbeitsbelastung sind die Hauptgründe, warum jährlich etwa 2000 Ärzte die Republik verlassen.

Und was wurde aus Ingenieur Stegitz? Nun – auch der steht dem deutschen Arbeitsmarkt nicht mehr zur Verfügung. Ein Headhunter vermittelte ihm einen neuen Job in der Schweiz. Nicht trotz seiner Erfahrung. Sondern ihretwegen.

Dieser Artikel wurde erstmals im November 2017 in der WirtschaftsWoche veröffentlicht und am 16.12.2019 redaktionell aktualisiert.

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