
Dass es in Deutschland wirklich an so genannten Fachkräften mangelt, kann man durchaus bezweifeln. Dagegen spricht nicht nur das stagnierende Lohnniveau, sondern möglicherweise auch überzogene Erwartungen und Ansprüche der Arbeitgeber. Für den Präsidenten des Bundesverbandes mittelständischer Wirtschaft (BVMW), Mario Ohoven, ist die Sache allerdings, wie nicht anders zu erwarten, klar: Fast jedes dritte Unternehmen habe wegen fehlender Fachkräfte bereits Aufträge ablehnen müssen, behauptet er aus Anlass der Beratung des Jahreswirtschaftsberichts 2013 der Bundesregierung im Bundestag. Es sei daher "vor allem die Politik gefordert. Sie muss die steuerlichen Rahmenbedingungen für die betriebliche Aus- und Weiterbildung verbessern und die Vermittlung qualifizierter Arbeitskräfte optimieren."
Unausgesprochener Interessenkonflikt zwischen Wirtschaft und Sozialpolitik
Die Stellungnahme Ohovens, die sein Verband heute in einer Pressemitteilung verbreitete, macht die Dialektik der arbeitspolitischen Debatte deutlich: Eine hohe Beschäftigungsquote hier, angeblicher Fachkräftemangel da. Einerseits rühmt Ohoven die deutschen Mittelständler dafür, "dass die Erwerbstätigkeit in diesem Jahr vermutlich leicht zunehmen und die Arbeitslosigkeit auf Vorjahresniveau bleiben dürfte. "Wir wissen aus unserer aktuellen Unternehmerumfrage, dass knapp 60 Prozent der Betriebe die Zahl ihrer Beschäftigten auf dem Stand von 2012 halten will. Etwa ein Drittel der Mittelständler plant sogar zusätzliche Einstellungen", sagte er. Zugleich klagt er über das "Alarmzeichen", dass jeder zweite mittelständische Betrieb nicht in jedem Fall und jeder dritte Mittelständler überhaupt keine geeigneten Arbeitskräfte finde. "Der Mittelstand leidet trotz der positiven Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt zunehmend unter Fachkräftemangel", sagt Ohoven. Trotz? Ja, so ist es in Ohovens Pressemitteilung zu lesen. Wundert er sich tatsächlich darüber, dass bei steigender Erwerbsquote das Angebot an Arbeitskräften geringer wird?
Ohoven ist offenbar nicht ganz bewusst, dass es einen Interessenkonflikt zwischen Arbeitgebern und Arbeitspolitik gibt, der in der Natur der Sache liegt, aber fast nie beim Namen genannt wird. Der BVMW und andere Wirtschaftsverbände haben ein mikroökonomisches Interesse an einem großen Arbeitskräfteangebot. Marx sprach nicht ganz zu Unrecht von einer "industriellen Reservearmee", die das "Kapital" braucht. Jede Arbeitspolitik kann dagegen nur das Ziel verfolgen, die Arbeitslosenquote zu verringern, was aber logischerweise die Auswahl für personalsuchende Unternehmen verringert. Beide Interessen abzuwägen, wäre die Aufgabe einer vernünftigen Wirtschaftspolitik. Die Vorbedingung wäre allerdings, die Dialektik zwischen dem Bedarf der Arbeitgeber und dem Interesse der Gesellschaft an einer geringen zahl von Arbeitssuchenden überhaupt erst einmal klar zu benennen. Der Fachkräftemangel-Alarmismus, den die Wirtschaftsverbände schüren, und der in Ministerien und Parteien unkritisch übernommen wird, ist da wenig hilfreich.