Fachkräftemangel Unternehmen müssen mehr selbst ausbilden

Mehr als 300.000 Azubis haben 2017 ihre Ausbildung beendet. Doch das reicht nicht, um dem Fachkräftemangel zu begegnen. Schuld ist der Akademisierungswahn – die Unternehmen brauchen mehr Praktiker. Da hilft nur, sich den Nachwuchs selbst heranzuziehen.

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Nachwuchsförderung gegen Fachkräftemangel. Quelle: Getty Images

Als Günther noch jung war, da war die Welt noch in Ordnung. Als er 1972 in Korntal im Landkreis Ludwigsburg sein Abitur machte, da sah Europa noch anders aus. Es gab Grenzen und verschiedene Währungen, die Preispolitik war eine andere – 300 Gramm Gänseleber kosteten in Straßburg auf dem Markt zwölf Francs. Heute entspräche das 1,82 Euro. Auch der Arbeitsmarkt unterschied sich deutlich vom heutigen, erzählt Günther.

Der EU-Kommissar für Haushalt und Personal, Nachname Oettinger, steht vor 213 jungen Menschen im Berliner Hotel Maritim. Sie sind in ihren Berufen zu den besten Auszubildenden Deutschlands gekürt worden – unter mehr als 300.000 Prüfungsteilnehmern.

Jeder dritte Betrieb hat offene Lehrstellen

"Den Bundesbesten gebührt meine größte Anerkennung und mein Respekt", sagte Eric Schweitzer, Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK). "Dennoch ist der Blick auf unseren deutschen Ausbildungsmarkt nicht ungetrübt: Für junge Menschen wird es zwar immer leichter, einen Ausbildungsplatz zu finden. Für Unternehmen aber wird es immer schwerer, ihre offenen Ausbildungsplätze zu besetzen", bilanzierte Schweizer. In jedem dritten Betrieb blieben inzwischen Ausbildungsplätze unbesetzt, fast jeder zehnte IHK-Ausbildungsbetrieb habe im vergangenen Jahr nicht einmal eine einzige Bewerbung erhalten.

Die gängigsten Thesen zum Fachkräftemangel - und ihr Wahrheitsgehalt

Und hier sind wir wieder bei Oettingers Erkenntnis, dass die Welt heute ganz anders aussieht, als zu der Zeit, als er 16 Jahre alt war. Denn was für die Azubis gut ist, weil sie sich die Stellen vermeintlich aussuchen können, wird für die Unternehmen zum bösen F-Wort:

Fachkräftemangel.

Denn die meisten Unternehmen, die vakante Stellen nicht besetzen können, suchen keine Akademiker, sondern Fachkräfte mit Berufsausbildung. Das zeigt der DIHK-Arbeitsmarktreport 2017. Jedes zweite Unternehmen, das erfolglos Bewerber sucht, braucht Arbeitskräfte mit einer dualen Berufsausbildung. Seit 2014 stehen die ganz oben auf der Fahndungsliste der Personaler. Besonders im Gastgewerbe (68 Prozent), im Ausbaugewerbe (61 Prozent), im Einzelhandel (60 Prozent) sowie bei Herstellern von Metallerzeugnissen (55 Prozent) haben Menschen mit einer entsprechenden Ausbildung quasi Jobgarantie. Zum Vergleich: Die bis 2012 raren Hochschulabsolventen sind heute nur noch in rund jedem dritten Unternehmen knapp.

Können Fachkräfte aus Polen helfen?

Viele Firmen suchen deshalb verstärkt im benachbarten Ausland nach Arbeitskräften. So gibt es beispielsweise im polnischen Arbeitsamt in Gorzów Wielkopolski im Grenzgebiet zu Brandenburg Infotage für Firmen aus Deutschland und Arbeitnehmer aus Polen, die sich vom jeweils anderen die Rettung versprechen. Kerstin Kieper von der Firma Manpower Group Deutschland sucht hier Lastwagenfahrer und Gabelstaplerfahrer im Logistikbereich. „Es wird immer schwieriger, Fachpersonal zu bekommen und deshalb suchen wir auch weiter weg“, sagt sie.

Damit ist sie nicht allein: Von der Arbeitsagentur im sächsischen Bautzen heißt es: „Die Bereitschaft der Oberlausitzer Unternehmen, auch polnische oder tschechische Arbeitskräfte einzustellen, ist über die Jahre hinweg gestiegen.“ Seit Frühjahr 2012 habe sich die Zahl der polnischen Arbeitnehmer im Agenturbezirk bis heute fast versechsfacht. Im März seien es fast 5400 gewesen.

Im selben Monat haben in Deutschland nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit rund 366.400 Polen gearbeitet. 2012 waren es 157.000. Ein Arbeitsagentur-Projekt in Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg wirbt um polnische Auszubildende.

Die Folge: Auch der polnischen Wirtschaft fehlen mittlerweile Kräfte – vor allem im Gesundheitswesen. Weitere Arbeitskräfte abzuwerben ist also keine Lösung für das deutsche Fachkräfteproblem, es verschiebt es lediglich über die Grenze zu den Nachbarn. Ganz davon abgesehen, dass nicht jede Vermittlung funktioniert. Mal liegt es an fehlenden Deutschkenntnissen, mal an den beruflichen Qualifizierungen. Denn, und da ist man sich nicht nur im Berliner Maritim einig, das deutsche duale Ausbildungssystem ist weltweit führend.

Oettinger erzählt, wie ihn vor allem die Kollegen aus den osteuropäischen Ländern um die duale Ausbildung beneiden. "Es ist weiterhin die beste Grundlage für beruflichen Erfolg, Theorie und Praxis zu vereinen", sagt er bei der Ehrung. Was, allen Akademisierungswahn zum Trotz, auch Unternehmer und Akademiker zugeben. Zumindest beklagen beide den fehlenden Praxisbezug des Studiums in Deutschland. Die einen brechen ihr Studium deswegen ab, die anderen schimpfen über die Berufseinsteiger, die zwar gute Theoretiker, aber keine guten Arbeiter sind.

Außerdem halten mehr Lehrlinge ihre Ausbildung durch als Studierende. Jede vierte Ausbildungen endet vorzeitig beziehungsweise der Azubi wechselt doch noch mal den Lehrberuf – besonders häufig satteln angehende Restaurantfachleute, Sicherheitskräfte und Köche um.

Bei den Akademikern bricht jeder Dritte ab, wie eine repräsentative Studie des Deutschen Zentrums für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW) zeigt. In mathematisch-naturwissenschaftlichen Studiengängen ist die Abbrecherquote mit 39 Prozent an Universitäten und 42 Prozent an Fachhochschulen besonders hoch.

Knapp die Hälfte aller Abbrecher verlassen in den ersten beiden Semestern die Hochschule, weitere 29 Prozent im dritten oder vierten Semester. Die überwiegende Mehrheit der Studienabbrecher (43) macht dann: eine Berufsausbildung. 31 Prozent gehen ohne Abschluss arbeiten.

"Der frühe Zeitpunkt eines Studienabbruchs und der schnelle Wechsel in eine Ausbildung weisen darauf hin, dass viele junge Menschen noch nicht genau wissen, welchen Berufsweg sie einschlagen möchten", sagte Bundesforschungsministerin Johanna Wanka (CDU) bei der Präsentation der DZHW-Studie. "Das zeigt, wie wichtig eine gute Berufsorientierung bereits in der Schulzeit ist."

Die Lösung heißt: selbst ausbilden

Das sagt auch DIHK-Ausbildungsexpertin Esther Hartwich. Sie rät Unternehmen, Schülerpraktika anzubieten, damit sich potentielle Auszubildende und Unternehmen kennenlernen können. Gerade in den Schulen sollte die Berufsberatung intensiviert werden – auch an den Gymnasien. Schließlich ist eine Berufsausbildung nicht nur etwas für Haupt- und Realschüler. Wie die Zahlen zeigen, ist die Berufsausbildung für Studienabbrecher eine sinnvolle Option. Warum also nicht schon im Gymnasium um die werben, die in einer Ausbildung besser aufgehoben sind, als im Hörsaal? Und die letztlich doch in der Berufsschule landen – frustriert über ihren Misserfolg an einer Uni.

Deshalb wollen die deutschen Unternehmen in Zukunft wieder mehr auf Eigengewächse setzen, wie der DIHK-Arbeitsmarktreport zeigt. Jedes zweite Unternehmen will künftig noch mehr junge Menschen ausbilden, um so die individuelle Fachkräftelücke zu schließen. "Die Unternehmen in Deutschland forcieren ihr Engagement in der Ausbildung", bestätigt Schweizer. "Denn schon jetzt ist der Fachkräftemangel für mehr als jeden zweiten Betrieb ein Geschäftsrisiko."

Lockangebote für Azubis

Hartwich ergänzt: "Unternehmen bieten leistungsstarken Jugendlichen attraktive Zusatzangebote, wie Auslandsaufenthalte oder Zusatzqualifikationen. Darüber hinaus fördern und begleiten sie vielfach leistungsschwächere Azubis in der Ausbildung." Insgesamt investiere die deutsche Wirtschaft jedes Jahr rund 23 Milliarden Euro, wie Hartwich erzählt. „Das ist ein maßgeblicher Beitrag zur Fachkräftesicherung.“ Der aber alleine nicht genüge. Man müsse noch mehr gegen die Vorurteile in den Köpfen vieler Schüler und Eltern tun und nicht nur das Hochschulstudium als alleinseligmachende Berufsqualifikation anpreisen, sagt sie. "Insbesondere die Abschlüsse der Höheren Berufsbildung, also Meister oder Fachwirte, bieten gute Verdienstmöglichkeiten und schützen noch besser vor Arbeitslosigkeit als ein Studium."

Das scheint zu funktionieren: trotz sinkender Schülerzahlen bleibt die Zahl der Ausbildungsverträge einigermaßen konstant. "In diesem Jahr haben über 33.000 Schüler weniger die allgemeinbildenden Schulen verlassen als im Vorjahr – dennoch konnte die Bewerberanzahl um einen Ausbildungsplatz stabil gehalten werden", sagt Hartwich.

547.800 junge Menschen haben sich demnach um eine Lehrstelle beworben – 24.000 Jugendliche haben keine bekommen. Gleichzeitig blieben 49.000 Ausbildungsplätze unbesetzt. "Die Ausbildungsplatzchancen wären da. Oft würde dies aber Mobilität erfordern oder einen Kompromiss bei der Berufswahl, wenn man einen speziellen Beruf erlernen möchte, der in seiner Region nicht oder wenig ausgebildet wird", so Hartwich. Wer in Hamburg lebt, zieht für eine Lehre zur Einzelhandelskauffrau nicht in den Schwarzwald. Und wer im Schwarzwald Entwickler für Anwendungsinformatik lernen möchte, entscheidet sich nicht für eine Ausbildung zum Koch, nur weil der Gastwirt nebenan diese anbietet. Daran ändern auch sämtliche Azubi-Lockangebote und Imagekampagnen nichts.

Unternehmen haben auch selbst schuld

Ein weiterer Grund, dass Betriebe und Jugendliche nicht zueinander finden, liegt laut einer Umfrage unter 1000 Azubis und Ausbildungssuchenden an den unterschiedlichen Sprachen, die beide Parteien sprechen. Die Macher der Azubi-App TalentHero haben bei den Jugendlichen nachgefragt, wie sie Stellenangebote für Lehrstellen wahrnehmen. Das Ergebnis: Stellenanzeigen sind unverständlich und wirken unglaubwürdig.

Die Befragten beschweren sich über Buzzwords, Anglizismen und Fachausdrücke anstatt der für sie relevanten Informationen: Arbeitsort (für 54 Prozent am Wichtigsten), die Entwicklungsmöglichkeiten nach der Ausbildung (52 Prozent) und das Gehalt (51 Prozent). Während der Arbeitsort laut den Befragten auch fast immer angegeben wird, werden Informationen zum Ausbildungsgehalt und zu Entwicklungsmöglichkeiten von der Hälfte der Befragten nur manchmal, selten oder nie in Stellenanzeigen gefunden.

Diese Ausbildungsbetriebe begeistern deutsche Azubis

Weitere sehr wichtige Kriterien sind für 41 Prozent der Befragten die Übernahmequote des Unternehmens und 39 Prozent wünschen sich zusätzliche Weiterbildungsangebote. Ob ein Jobticket für Bus und Bahn angeboten wird oder nicht, ist für ein Drittel der Befragten sehr wichtig. Infos dazu finden 42 Prozent der Studienteilnehmer allerdings nur selten oder nie in Stellenangeboten, wie es in der Umfrage heißt. Lust auf eine Bewerbung hatten nach dem Lesen der Stellenanzeige nur insgesamt 28 Prozent der Befragten.

Dass sich die angehenden Azubis ihren Lieblingsarbeitgeber aussuchen können, ist die Kehrseite des Fachkräftemangels. Sagt auch Oettinger zu Deutschlands besten Azubis. Sie könnten wählerisch sein, schließlich gebe es nicht genug Techniker und Fachkräfte in Deutschland. Dafür sollten sie sich schon mal darauf einstellen, bis 70 arbeiten zu müssen. Wenn auch vermutlich nicht mehr in ihrem Ausbildungsbetrieb.

Oettinger rät ihnen zur regelmäßigen Weiterbildung. Daran sollten sich auch die Arbeitgeber halten. "Wenn ihr bis 70 fit bleiben müsst, braucht ihr wie in der Formel 1 Boxenstopps, ihr müsst Reifen wechseln und nachtanken. Und das ist in eurem Fall die berufliche Weiterbildung. Ihr braucht jährliche Weiterbildung", sagt Oettinger. Als Günther sein Abitur gemacht und zur Uni gegangen ist, war das anders. Trotzdem: "Ich beneide euch", sagt der EU-Kommissar. Und wenn es auch nur um die Währungsunion und die Freizügigkeit ist.

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