Bei der Frage nach dem passenden Outfit musste Sparkassenmanager Dietmar Bärtele erst mal schlucken. "Etwas, das vollgesabbert werden kann", sollte er mitbringen. Kein Wunder, dass der 61-Jährige anfangs "einen Mordsbammel" vor seiner neuen Aufgabe hatte.
Statt als Abteilungsdirektor des Kompetenzcenters Kredit Kunden der Kreissparkasse Waiblingen mit seinen 100 Mitarbeitern in Finanzfragen zu beraten, versorgte er als Praktikant der Diakonie in einem Dorf für Behinderte zusammen mit einer Heilerziehungspflegerin eine Woche lang vier schwerst körperlich und geistig behinderte Kinder und Jugendliche - vom Wecken übers Waschen und Füttern bis hin zum Windelnwechseln. Keiner der Jungs konnte selbstständig laufen, essen oder sich verständlich machen. "Um halb zehn Uhr morgens war ich schon so fertig wie nach einem Zwölf-Stunden-Arbeitstag mit Marathonmeetings", erzählt er. "Aber was mir diese Woche gebracht hat, kann man auf keinem Führungsseminar lernen."
Mit anderen Augen auf die Welt schauen: Genau auf diesen Effekt zielen Arbeitgeber ab, wenn sie Manager wie Bärtele dabei unterstützen, sich für einige Zeit sozial zu engagieren statt über Gewinnmaximierung nachzudenken. Zahlreiche Unternehmen aller Branchen verschreiben ihren Führungsriegen einen Seitenwechsel der besonderen Art: Eine Woche lang tauschen sie die Teppichetagen ihres Unternehmens gegen Hospiz, Bahnhofsmission oder Justizvollzugsanstalt.
Mit Gutmenschentum hat das nichts zu tun. "Die Unternehmen haben damit schlicht die Karriereplanung ihrer Leistungsträger im Blick", sagt Theo Wehner, Professor für Arbeits- und Organisationspsychologie an der ETH Zürich. Das Ziel der Arbeitgeber: die Stärkung der Sozialkompetenz ihrer Führungsriege - "eine Fähigkeit, die nicht wenigen Managern noch immer fehlt."
Kein Wunder, dass Sozialpraktika häufig verordnet werden. Allein über die Patriotische Gesellschaft von 1.765 in Hamburg absolvierten bundesweit mehr als 1.500 Manager einen Seitenwechsel - von BMW bis Telekom, von Airbus bis Shell, von Beiersdorf bis Vattenfall. Andere organisieren soziale Trainingslager in Eigenregie. Bei Lufthansa etwa zimmerten Führungskräfte einen Spielplatz für Aussiedler, bei RWE entwickelten Nachwuchsmanager ein Marketingkonzept für eine Kinderschutzorganisation, und bei Siemens halfen leitende Angestellte beim Bau eines Hauses für missbrauchte Kinder.
Von solchen Einsätzen profitieren alle Seiten. Die sozialen Einrichtungen erhalten tatkräftige Hilfe und manchmal auch etwas Management-Know-how, die Führungskräfte selbst kurbeln ihre Sozialkompetenz und damit – nicht zuletzt - ihre Karriere an.
Aber auch ihre Arbeitgeber profitieren von der Freistellung. Das geht aus dem Engagementbericht 2012 der Bundesregierung hervor, für den das Institut der deutschen Wirtschaft Köln (IW) mehr als 2300 Unternehmen befragte, die ihre Mitarbeiter immer wieder zu Sozialeinsätzen schicken (siehe Grafik).
Image aufpolieren
"Zunehmend schmücken sich Unternehmen mit Corporate Volunteering", beobachtet Arbeitspsychologe Wehner. "Gerade in Zeiten steigenden Fachkräftemangels entdecken Vorreiterunternehmen die Chance, mit sozialem Engagement ihr Image als gute Bürger aufzupolieren."
Hinzu kommt: Gesellschaftliche Verantwortung steht beim Managementnachwuchs hoch im Kurs - und gewinnt weiter an Bedeutung. Dies geht aus der aktuellen Umfrage des Berliner Trendence Instituts unter 14 500 abschlussnahen Wirtschafts- und Ingenieurwissenschaftsstudenten hervor. 69 Prozent von ihnen erachten die unternehmerische Sozialverantwortung eines Arbeitgebers als wichtiges Auswahlkriterium bei der Stellensuche. 2009 lag der Wert erst bei 61 Prozent.
Die Devise hinter den Maßnahmen: Sozialarbeit statt Seminargeschwafel. Anders als bei Workshops, Rollenspielen oder den gängigen Teambildungsmaßnahmen garantiert das Sozialpraktikum ein Lernen in Echtzeit. "Die Erfahrung in einem Hochseilgarten wird immer konstruiert sein", sagt Dieter Schöffmann, Anbieter solcher Freiwilligenarbeit für Führungskräfte sowie Geschäftsführer der Vis a Vis Agentur für Kommunikation in Köln. "Den Businessplan für einen Hospizdienst zu erstellen ist dagegen kein Planspiel, sondern das wirkliche Leben."
Auf das traf auch Ulrich Krausen, als er im Rahmen des Programms Seitenwechsel seinen Job tauschte: Eine Woche arbeitete der Leiter des Telefon-Kundenservice der Central Krankenversicherung in Köln als Praktikant beim Hamburger Suchtberatungszentrum Die Brücke. Statt mit Kunden über Tarife und Übernahmeleistungen zu diskutieren, standen Kartoffeln schälen, Fußboden schrubben und Poker spielen auf dem Programm. Umgeben von Alkoholikern, Drogenabhängigen und Essgestörten machte er sich nützlich, wo es nur ging. In der Küche, im Arztzimmer, im Drückerraum. Er schmierte Butterbrote, gab Unterstützungsberechtigten Bargeld aus, packte Lebensmittelpakte. Und hörte einfach zu, als eine alkoholabhängige Ex-Tänzerin des DDR-Fernsehballetts ihm ihre traurige Lebensgeschichte erzählte. Und statt, wie sonst auf seinem Nachhauseweg, in Köln an einer Lichtinstallation des Künstlers Keith Sonnier vorbeizuflanieren, lief der 57-Jährige nach getaner Arbeit durch St. Georg an den Straßenhuren vorbei.
Ein echter Härtetest für den Rheinländer. "Auf den ersten Blick mag so ein Seitenwechsel wie ein Abenteuerurlaub erscheinen", sagt er. "Aber sobald man die Lebensgeschichten der Menschen dort erfährt, hat das alles mit Abenteuer und Urlaub rein gar nichts mehr zu tun. Es trifft einen voll ins Herz."
Basis für besseres Führen
Nicht nur fürs Leben lernen, sondern auch für den Job: Die Freiwilligeneinsätze der Manager schaffen beides. "Seitenwechsel ist lebenslanges Lernen live", sagt Ulrike Riedel, Personalvorstand der Hamburger Hochbahn. Das Programm lasse die Teilnehmer ihre eigenen Meinungsmuster überdenken und schule sie darin, neue Antennen auszufahren. "Mitarbeiter, Kollegen und Geschäftspartner immer auch als Mitmenschen wahrzunehmen, ist die Basis für eine professionelle Führungsarbeit. Seitenwechsel schult und schärft diesen Blick", ergänzt Programmleiterin Doris Tito von der Patriotischen Gesellschaft.
Die volle Bandbreite weicher Führungsfähigkeiten
Geschult wird die volle Bandbreite weicher Führungsfähigkeiten: Offenheit und aktives Zuhören, das Überdenken eigener Werte und Maßstäbe, das Verständnis für Menschen in anderen Lebenssituationen. Und die Erkenntnis, dass man nicht für jede Situation eine Lösung parat haben muss. "Das bringt Führungskräfte, die sonst immer alles im Griff zu haben glauben, ins Grübeln", sagt Tito. Ebenfalls eine wichtige Lektion: "Statt über andere zu urteilen“, so Tito, „erfährt man mit eigenen Augen und Sinnen, wie sie leben."
Versicherungsmanager Krausen muss öfter schlucken, wenn er von seiner Zeit in der Suchtberatung erzählt. In seinem lichtdurchfluteten, frisch renovierten Büro mit Postern von Andy Warhol scheint die Welt von Drogen und Alkohol weit weg. Doch der Schein trügt. Mit genau diesen Problemen ist der Manager auch hier konfrontiert. Schulden, Ehekrisen und Depression - als Vorgesetzter kennt er viele private Sorgen seiner rund 100 Mitarbeiter. "Als Unternehmen dürfen wir davor nicht die Augen verschließen", sagt Krausen. "Wir sind ein Spiegel der Gesellschaft."
Und dort hat sich das Suchtproblem extrem verstärkt, wie der jüngst vorgelegte Fehlzeiten-Report 2013 des AOK-Bundesverbands zeigt. Innerhalb der letzten zehn Jahre stieg die Zahl der Fehltage, die durch die Einnahme von Alkohol und anderen Suchtmitteln bedingt waren, um 17 Prozent. Während 2002 noch 2,07 Millionen Fehltage in dem Zusammenhang registriert wurden, waren es 2012 schon 2,42 Millionen.
Nicht um den heißen Brei
Krausen spürt die Auswirkungen dieses Problems hautnah: Eine alkoholkranke Mitarbeiterin belastete ihr Team, weil sie immer wieder ausfiel. Nach seinen Erfahrungen in der Suchtberatung fasste sich Krausen ein Herz, suchte das Gespräch. "Bei Seitenwechsel habe ich gelernt, nicht um den heißen Brei herumzureden", sagt er. "Als Chef muss man Probleme offen ansprechen, sonst erreicht man nichts."
Gesagt, getan. So brachte er die Mitarbeiterin dazu, sich vor ihrem eigenen Team zu outen. "Ein Riesenschritt für sie, aber er hat sich gelohnt", ist Chef Krausen überzeugt. Das Getuschel hinter ihrem Rücken sei fast verstummt, weil sie die Kollegen von Kontrahenten zu Eingeweihten gemacht habe. "Das hat eine positive Dynamik im Team angestoßen."
Außerdem entwarf Krausen für sorgengeplagte Mitarbeiter spezielle Arbeitsprogramme, bei denen sich der Schwierigkeitsgrad der Arbeit nur langsam steigert. Das Ziel: ihr Selbstwertgefühl zu stärken und ihnen die Chance zu geben, ihre Akkus nach und nach neu aufzuladen.
Damit die Sozialwochen ähnlich erfolgreich verlaufen wie bei Krausen, setzen erfahrene Unternehmen auf freiwillige Teilnahme. Idealerweise wählen die Führungskräfte die gewünschte Institution selbst aus und werden dann in Einzelinterviews auf ihren Einsatz vorbereitet. Während und nach dem Aufenthalt sollte ein Ansprechpartner zur Verfügung stehen, um Probleme abzufangen und Feedback einzuholen.
Serviceagenturen bieten Rundum-sorglos-Pakete an, die Beratung, Konzeption, Vermittlung, Organisation und Auswertung enthalten. Dazu gehören lokale Freiwilligenagenturen sowie Dienstleister wie die mehrwert Agentur für Soziales Lernen in Stuttgart oder Vis a Vis in Köln.
Überschaubare Kosten
Die Kosten für dieses Experiment sind vergleichsweise überschaubar: Üblicherweise sollten Firmen mit 2.000 bis 3.500 Euro pro Managerwoche rechnen. Geradezu ein Schnäppchen, verglichen mit den üblichen Gebühren anderer Seminare, bei denen dieser Preis schon für Ein-Tages-Veranstaltungen aufgerufen wird.
Allein IBM macht weltweit mehr als 150 Millionen Dollar für Freiwilligenarbeit locker. "Corporate Volunteering ist für uns keine softe Spielerei, sondern ein genauso strategisches Thema wie das knallhart finanziell gesteuerte Geschäft", sagt Peter Kusterer, Leiter Corporate Citizenship and Corporate Affairs des IT-Konzerns. Die persönliche Entwicklung der Mitarbeiter sei eine wichtige Form der Personalarbeit.
"Seitenwechsel rechnet sich für uns als Arbeitgeber fraglos", sagt auch Hochbahn-Managerin Riedel. Ihr jedenfalls falle kein anderes Seminar ein, das zu denselben Kosten einen annähernd ähnlichen Effekt brächte.
Die Top-Managerin weiß, wovon sie spricht. Sie ging mit gutem Beispiel voran und schaufelte sich eine Woche für ein Praktikum bei der Arbeiterwohlfahrt frei - "berufsbedingt skeptisch, ob der Lerneffekt über einen Sozialtourismus hinausgeht", wie sie gesteht. Nach ihrem Einsatz aber waren jegliche Zweifel verflogen. Die Mitarbeit in einer Wohngemeinschaft für unbegleitete jugendliche Flüchtlinge, die einen Hauptschulabschluss anstreben, habe sie viele ihrer Ansichten überdenken lassen. "Zum Schluss hatte ich mehr Fragen als Antworten zum Umgang mit Flüchtlingen", erzählt die 41-Jährige. Aber genau dieser Effekt sei ja gewollt. "Je mehr Handlungsoptionen Führungskräfte erkennen, desto besser werden ihre Entscheidungen."
Und Einstellungen: Sie habe durch den Seitenwechsel ihre Haltung zu Hauptschülern geändert, gibt die Personalerin zu. Als die Gewerkschaft kurz nach ihrer Sozialzeit in Tarifverhandlungen forderte, keine Hauptschüler mehr für die Ausbildung zum Lokführer zuzulassen, kämpfte Riedel vehement dagegen. "Der viel zitierte Satz 'Wir haben eine soziale Verantwortung' hat jetzt eine noch tiefere Bedeutung für mich bekommen."
Das gilt wohl auch für Manfred Jaumann. Um seinen Horizont zu erweitern, hatte sich der Leiter des technischen Betriebs der Internationalen Raumstation bei Astrium Space Transportation in Bremen für die Palliativstation des Klinikum Links der Weser entschieden. Hier werden todkranke Menschen ohne Chance auf Heilung mit therapeutischen Maßnahmen auf den unausweichlich letzten Wochen ihres Lebenswegs begleitet. "Sterben und Tod", sagt der 53-Jährige, "kamen bislang in meinem Leben nicht vor."
Waschen, Füttern, Pflegen
Das wollte er ändern: Zur Frühschicht des ersten Tages im Hospiz fährt Jaumann nicht in seinem bulligen Dienstwagen, sondern das erste Mal seit Jahren mit der Straßenbahn. In den Besprechungen geht es nicht um Projekte, Strategien und Budgetpläne, sondern um Menschen, Schmerzeinstellungen und Patientenverfügungen. Jaumann wäscht und füttert die Patienten, hilft bei der Wundversorgung, nimmt an den Patientenbesprechungen teil. Erkennt, mit welchem "gigantischen Engagement" Ärzte und Pfleger arbeiteten - "so viel Hingabe und Akribie kannte ich bis dato nicht", sagt Jaumann. Und ist erstaunt, wie wenig Berührungsängste er hat - selbst, wenn er eine sterbende Patientin im Arm hält, damit sie draußen die Meisen beobachten kann. Oder als er sich von einer gerade Verstorbenen still verabschiedet. "Ich war ganz einfach für die Patienten da", sagt Jaumann. "Das Gefühl, einfach nur etwas zu geben, ohne etwas zurückzubekommen, gibt es im Job so nicht."
Die Zeit in der Klinik hat ihn so tief bewegt, dass er heute ehrenamtlich in einem Hospiz Sterbende in ihren letzten Wochen begleitet. Und in den Gesprächen mit seinen 100 Mitarbeitern bemüht sich der Manager nun, "immer den ganzen Menschen mit einzubeziehen", wie er sagt. "Die Zeit, die man dafür investiert, bekommt man zehnmal zurück - führen heißt ja auch, Menschen für sich oder eine Aufgabe zu gewinnen."
Davon ist auch Dietmar Bärtele überzeugt. Im Umgang mit kranken und schwachen Menschen hat er seit seiner Zeit in der Behinderten-WG Sicherheit gewonnen. Schwierige Mitarbeitergespräche schiebt er nicht wie früher auf, sondern packt Probleme direkt an.
Vor allem aber habe er gelernt, dass man auch ohne Worte kommunizieren kann. "Wenn man sich auf die Augenhöhe des Gegenübers einstellt, klappt es mit der Verständigung", sagt der Abteilungsleiter. "Das funktioniert im Wohnheim genauso wie im Büro." Und einen vollgesabberten Pulli nimmt er für diese Erkenntnis gern in Kauf.