WirtschaftsWoche: Frau Rohrmann, Ihr Buch beginnt mit einem Zitat von Mike Myers: „Ich erwarte jederzeit, dass die Kein-Talent-Polizei kommen wird und mich verhaftet.“ Dabei gehört der Emmy-Gewinner zu den reichsten und bekanntesten Schauspielern der Welt. Wie kann das sein?
Rohrmann: Myers ist ein klassisches Beispiel für das Hochstapler-Selbstkonzept.
Was heißt das?
Er gehört zwar zur Gruppe der überdurchschnittlich Erfolgreichen, empfindet das aber nicht so. Damit ist er nicht allein: Wir haben in einer Studie unter 457 Führungskräften herausgefunden, dass rund die Hälfte von ihnen von dem Phänomen betroffen ist. Sie alle haben gemein, dass sie in ständiger Angst vor dem Auffliegen leben. Und so fürchten sie, sie seien nicht so kompetent, wie andere sie einschätzen. Ihre Erfolge führen sie stets auf glückliche Zufälle oder äußere Umstände zurück – nie auf die eigene Leistung.
Woher kommen diese Zweifel?
Meist ist es eine Mischung aus Persönlichkeitsstruktur und Umwelteinflüssen, wobei bestimmte Faktoren familiärer Sozialisation eine wesentliche Rolle spielen können. Ängstliche Menschen sind häufiger betroffen als solche, die extrem risikobereit sind. Viele von ihnen kommen aus Familien, in denen es einen hohen Leistungsanspruch gibt. Etwa, wenn die Zuneigung der Eltern stets an gute Noten oder sportliche Erfolge geknüpft war. Schwierig wird es auch, wenn Geschwister mit verschiedenen Rollen bedacht wurden. Wenn der Sohn etwa immer als „der Schlaue“ galt und die kleine Schwester nur „die Charmante“ war. Dann kann es passieren, dass die eigene Persönlichkeit so eng mit dieser Rolle verwächst, dass die jüngere Schwester irgendwann tatsächlich glaubt, nicht klug zu sein.
Sind Frauen häufiger betroffen als Männer?
Empirisch gesehen nein. Es gibt Studien, die einen leicht höheren Frauenanteil feststellen und welche, die einen leicht höheren Männeranteil fanden. Das hat mich überrascht.
Warum?
Ich hätte gedacht, das Frauen aufgrund ihrer oft eher ängstlichen Persönlichkeitsstruktur häufiger betroffen sind. Doch das hat sich nicht bewahrheitet. Nachdem ich meine Forschung veröffentlicht habe, erzählten mir viele Männer, wie sehr sie sich in den Ergebnissen wiedergefunden haben. Ich glaube, sie verstecken ihre Unsicherheiten nur besser. Was wir aber feststellen konnten: Es gibt Unterschiede in den verschiedenen Ländern. In den westlichen Industrienationen findet sich dieses Phänomen deutlich häufiger als etwa in Afrika.
Weil die wettbewerbsorientierter sind?
Und leistungsorientierter. Menschen mit Hochstapler-Selbstkonzept orientieren sich immer nur nach oben. Was grundsätzlich gar nicht schlecht ist, denn dadurch werden Entwicklungspotenziale freigesetzt. Aber: Wer sich immer nur nach oben orientiert, findet auch immer Menschen, die noch erfolgreicher, intelligenter oder belesener sind als man selbst. Besser ist es, eine Mitte zu finden. Zu sehen, dass es noch Luft nach oben gibt, aber eben auch die vielen Menschen im Blick zu behalten, die deutlich weniger erreicht haben.
Stehen die selbst erklärten Hochstapler unter besonderem Stress?
Sie glauben, anderen permanent etwas vorzuspielen. Das sorgt für Dauerstress. Und das Schlimme ist: Mit jedem neuen Erfolg steigt der Druck. Die Erwartungen an sich selbst werden größer, aber auch die Angst vor dem Versagen.
Was passiert, wenn sie tatsächlich scheitern?
Das wird als besonders dramatisch angesehen. Ich kenne eine Professorin, die aus Angst vor der regelmäßigen Evaluation ihren Job gekündigt hat. Dabei hätte sie sich überhaupt keine Sorgen machen müssen, denn sie hätte die Überprüfungen mit Bravour bestanden. Mit ihrem Job hat sie einen Teil ihrer Daseinsberechtigung verloren. Die Betroffenen sind der Meinung, nichts mehr wert zu sein, und erkranken häufiger an Depressionen.
Welche negativen Auswirkungen gibt es noch?
Menschen mit dem Hochstapler-Selbstkonzept bleiben häufig unter ihren Möglichkeiten. Sie scheuen das Risiko und bewegen sich lieber in gewohnten Bahnen. Wenn sie eigentlich gerne Mathematiker werden wollen, studieren sie stattdessen Mathe im Nebenfach auf Lehramt. Oder sie lehnen eine neue Stelle oder Beförderung aus Angst vor Versagen ab. Zudem haben sie häufig eine ungesunde Arbeitsweise.
Inwiefern?
Die Betroffenen zeigen ein perfektionistisches Arbeitsverhalten, neigen aber auch zum Aufschieben. Das liegt zum einen daran, dass ihr Perfektionismus sie teilweise lähmt, zum anderen aber auch daran, dass sie sich später einreden können, sie hätten zu wenig Zeit gehabt. Diese Verhaltensweisen sind nicht besonders gesund für die Work-Life-Balance und sorgen für zusätzlichen Stress.
Was lässt sich dagegen tun?
Wir haben beobachtet, dass manche Menschen, die seit vielen Jahren in einer Führungsposition arbeiten, ihre Ängste irgendwann verlieren. Interessanterweise vor allem dann, wenn sie als Mentoren für jüngere Kollegen tätig sind. Dadurch verschiebt sich der Fokus von der eigenen Leistung auf die von anderen. Bei vielen Betroffenen ist aber auch ein Coaching notwendig und sinnvoll.
Wege aus der Tiefstapelei
Schreiben Sie, welche Erfolge Sie bisher erreicht haben! Sie können solche Aufgaben jederzeit wieder meistern – denn Sie haben das Talent dazu.
Nur weil Sie sich in gerade diesem Moment vielleicht inkompetent fühlen, sind Sie das noch lange nicht. Machen Sie sich bewusst, dass Ihre Gefühle keine Fakten sind.
Reden Sie mit Menschen, denen Sie vertrauen. Teilen Sie mit, dass Sie ängstlich sind. Sie werden auf Verständnis treffen. Und viele Dinge sind nur noch halb so schlimm, wenn man sie beim Namen nennt.
Versetzen Sie sich in die Lage eines Sportlers, der sich zu Beginn eines Wettkampfs vorstellt, wie er auf dem Treppchen steht und die Goldmedaille umgehängt bekommt. Stellen Sie sich vor, Sie hätten die vor Ihnen liegende Aufgabe bereits gemeistert und dass Ihnen die Leute sagen, wie gut Sie sind.
Kein Mensch ist perfekt. Sie nicht. Und auch Ihr Chef nicht. Vergegenwärtigen Sie sich das. Und stellen Sie realistischere Anforderungen an sich selbst.
Was passiert dabei?
Es geht darum, verzerrte Denkmuster zu identifizieren und zu verändern. Dafür muss man lernen, das eigene Handeln realistischer zu bewerten. Der Klassiker: Jemand hält einen Vortrag, erhält Standing Ovations und hängt sich aber später nur daran auf, sich einmal versprochen zu haben. Dabei ist eine Fokussierung auf die Fakten sinnvoll: Kann sich das Publikum wirklich so irren? Es hilft auch, anderen von seinem Komplex zu erzählen. Zu hören, wie andere die eigene Leistung einschätzen, hilft dabei, das Selbstbild ins richtige Licht zu rücken.
Der wohl bekannteste Spruch eines empfundenen Hochstaplers ist Sokrates’ „Ich weiß, dass ich nichts weiß“ – ist eine gewisse Demut nicht auch eine positive Eigenschaft?
Es sind vor allem sehr intelligente Menschen betroffen. Man muss schon sehr viel wissen, um zu wissen, dass man nicht alles weiß. Demut ist daher sicherlich eine positive Eigenschaft, die sich auch auf das Führungsverhalten auswirken kann.
Inwiefern?
Diese Manager können möglicherweise besser zugeben, dass sie von einem Thema nur wenig Ahnung haben. Das führt dazu, dass sie sich richtig gute Leute in ihr Team holen. Zudem haben sie häufig eine hohe soziale Kompetenz und sind feinfühliger für die Stimmungen ihrer Mitarbeiter. Außerdem motivieren und stärken sie diejenigen, die sich ebenfalls nicht allzu viel zutrauen.
Also ist es gut, wenn sie auf andere mit Hochstapler-Selbstkonzept treffen?
Das ist eine eher schwierige Konstellation. Es kann passieren, dass sich die beiden in ihrem Arbeitseifer und perfektionistischen Ansprüchen bestätigen und weiter antreiben. Dadurch steigt aber auch die Gefahr, auszubrennen.