Entgegen aller Unkenrufe, was die Zahl der Flüchtlinge der deutschen Wirtschaft antun werde, ist die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) zuversichtlich: Für Deutschland rechnet sie mit einem „robusten Wachstum“ von 1,8 Prozent in diesem und 1,9 Prozent im kommenden Jahr. Die aktuelle Flüchtlingssituation in Europa hält die OECD wirtschaftlich auf lange Sicht für positiv. „Langfristig ist das in jedem Fall ein Gewinn für diese Länder, unter der Maßgabe, dass es gelingt, diese Zuwanderung schnell in den Arbeitsmarkt zu bringen“, sagte Deutschland-Experte Andrés Fuentes.
Dass es hierbei hapert, zeigen viele Beispiele aus dem Unternehmeralltag. Denn die Betriebe wollen Flüchtlinge einstellen, sei es nun aus Nächstenliebe, oder weil sie die Arbeitskräfte brauchen. Daimler hatte angekündigt, Flüchtlingen eine Chance zu geben, Siemens, die Deutsche Telekom, Continental: Sie alle – und viele weitere Unternehmen wollen Praktika anbieten, Lehrstellen, Jobs. Im Weg steht allerdings immer wieder die Bürokratie, wie etwa Trigema-Chef Wolfgang Grupp berichtete. Er versucht seit Wochen, einen Pakistani als Näher einzustellen - doch die zuständigen Behörden stellen sich taub.
Was Flüchtlinge dürfen
Wer eine sogenannte Aufenthaltsgestattung bekommt, darf nach drei Monaten in Deutschland eine betriebliche Ausbildung beginnen. Wer geduldet ist, kann vom ersten Tag an eine Ausbildung machen. In beiden Fällen ist jedoch eine Erlaubnis durch die Ausländerbehörde nötig.
Gleiches gilt für Praktika oder den Bundesfreiwilligendienst beziehungsweise ein freiwilliges, soziales Jahr: Personen mit Aufenthaltsgestattung können nach drei Monaten ohne Zustimmung der ZAV damit beginnen, wer den Status „geduldet“ hat, darf das ab dem ersten Tag.
Wer studiert hat und eine Aufenthaltsgestattung besitzt, darf ohne Zustimmung der ZAV nach drei Monaten eine dem Abschluss entsprechende Beschäftigung aufnehmen, wenn sie einen anerkannten oder vergleichbaren ausländischen Hochschulabschluss besitzen und mindestens 47.600 Euro brutto im Jahr verdienen werden oder einen deutschen Hochschulabschluss besitzen (unabhängig vom Einkommen).
Personen mit Duldung können dasselbe bereits ab dem ersten Tag des Aufenthalts.
Personen mit Aufenthaltsgestattung können nach vierjährigem Aufenthalt jede Beschäftigung ohne Zustimmung der ZAV aufnehmen.
Selbst wenn diese bürokratischen Hürden abgebaut sind, bleibt für Unternehmen einiges zu tun. Immerhin: „Wir sind auf einem guten Weg: Zig Unternehmen, Verbände und Organisationen machen sich Gedanken, wie sie nachhaltig Flüchtlinge integrieren können und sagen: Das ist das neue Deutschland“, sagt Ana-Christina Grohnert, Managing Partner Talent bei EY und Vorstandsvorsitzende der Charta der Vielfalt e. V.
Bei der diesjährigen Diversity-Konferenz in Berlin standen deshalb vergangene Woche weniger die klassischen Diversity-Themen wie Alter und Geschlecht im Vordergrund, sondern wie Unternehmen in Zukunft mit den potentiellen neuen Mitarbeitern umgehen müssen. „Derzeit gibt es ein dringendes Anliegen: Es kommen viele ins Land, die einfach anders sind und die den Unternehmensalltag beeinflussen werden. Das kostet zunächst Anstrengung, Geld und Zeit. Aber langfristig profitiert jeder, der sich dem öffnet“, meint Grohnert.
Der Weg zur Integration kann vielfältig sein
Das sehen nicht nur Diversity-Experten so. Frank-Jürgen Weise, Organisator der Flüchtlingsintegration, Chef der Bundesagentur für Arbeit (BA) und Leiter des Migrationsamts BAMF, sagt: „Wir haben einen zunehmenden Bedarf an Arbeitskräften, der wird richtig groß.“ Gerd Billen, Staatssekretär im Bundesministers der Justiz und für Verbraucherschutz, stieß bei der Konferenz in Berlin ins gleiche Horn: „Wenn wir wettbewerbsfähig bleiben wollen, dann müssen wir möglichst viele Menschen in den Arbeitsmarkt integrieren und dafür sorgen, dass alle Menschen, die hier leben, ihre Stärken einbringen können." Dies ginge nur, wenn sie Anerkennung und Wertschätzung erfahren – am Arbeitsplatz genauso wie in der Gesellschaft als Ganzes.
Und nun kämen viele tüchtige, junge, hochmotivierte Menschen. Berufsorientierung, Einstiegsqualifizierung, Erprobung im Betrieb auf BA-Kosten oder auch Flüchtlinge, die aus Eigeninitiative einfach mit einem Job anfangen – der Weg zur Integration kann aus Weises Sicht vielfältig sein.
Die wichtigste Frage ist laut Billen derzeit die der Integration: „Wie schaffen wir es, Menschen unterschiedlicher Herkunft und Religionen in unsere Gesellschaft und in unseren Arbeitsmarkt optimal zu integrieren?“ Eine Aufgabe zu haben und das eigene Leben zu finanzieren, ist schließlich nicht nur der beste Weg zur Integration in eine Gesellschaft, sondern auch das Ziel vieler Flüchtlinge.
Die Gesellschaft bekommt mehr zurück, als sie investiert
Und dass man diese Arbeitskräfte hierzulande gut gebrauchen kann, kann niemand leugnen: Dem Handwerk fehlen rund 600.000 Fachkräfte und allein in den Bereichen Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik, so rechneten die Arbeitgeber jüngst vor, bräuchten die Unternehmen derzeit 164.400 zusätzliche Arbeitskräfte.
Klar ist, dass nicht jeder Flüchtling zum IT-Experte taugt. Aber dass ein ehemaliger Manager nicht als Bürokraft arbeiten kann, wenn er aus seiner Heimat keinen Nachweis über einen Computerkurs mitgebracht hat, mutet schon kafkaesk an.
Klar sollten im Zweifelsfall eher wirkliche Erfahrungen zählen statt formaler Voraussetzungen, meint Integrationsexpertin Christine Langenfeld. Aber: Zwei Klassen, also hohe Standards für Deutsche, niedrige für Flüchtlinge, dürfe es nicht geben.
Bislang ist es ein gigantischer Aufwand, Flüchtlinge in Lohn und Brot zu bringen. „Zehn Prozent der Menschen arbeiten nach fünf Jahren“, zitiert Weise Erfahrungswerte, „50 Prozent nach zehn Jahren und 70 Prozent nach 15 Jahren.“ Am Ende bekomme die Gesellschaft mehr zurück, als sie in die Flüchtlinge investiere. Aber: „Wir sollten uns nichts vormachen, wie schwer es für Menschen aus anderen Kulturen ist, in unsere geregelten Arbeitsmärkte zu kommen.“
Unternehmen brauchen Flexibilität
Dass das so ist, ist nicht allein die Schuld der Behörden. Auch Unternehmen brauchen mehr Flexibilität, wie Sven Hennige, Senior Managing Director beim Personaldiensteister Robert Half, anlässlich der letzten Fachkräftewoche sagte: „Problematisch ist aus unserer Sicht, dass Unternehmen häufig nach dem Alleskönner suchen. Dabei lassen sich Fachkenntnisse durch Weiterbildungen und eine professionelle Einarbeitung schnell aneignen.“ Das macht allerdings nicht nur Flüchtlingen, sondern auch deutschen Arbeitnehmern zu schaffen. Hennige: „Personalverantwortliche sollten offener sein für Bewerber, die vom Anforderungsprofil abweichen oder den Quereinstieg suchen, wenn sie die besten Fachkräfte für Ihr Unternehmen sichern möchten.“
Was erfolgreiche Unternehmen für ihre Mitarbeiter tun
Bedürfnisse von Familien.
Befragt wurden 1853 Personalverantwortliche von erfolgreichen (gemessen an Umsatz und Beschäftigungsentwicklung 2007-2012) Unternehmen.
Quelle: Institut der deutschen Wirtschaft Köln
Ideen von Mitarbeitern.
Arbeitszufriedenheit.
leistungsorientiert.
Mitarbeiter und helfen diesen bei der Weiterentwicklung.
eine hierarchieübergreifende Teilnahme an Vorstandssitzungen.
Mitarbeiterzufriedenheit regelmäßig ab.
innerbetriebliche Arbeitskreise.
ein Qualitätsmanagement.
Mitarbeiterpotenziale.
ihren Mitarbeitern an, ihre Führungskräfte zu analysieren.
Und noch etwas wird sich ändern müssen: die Einstellung und Offenheit. „Das Bild unserer Gesellschaft in den Köpfen wandelt sich, aber man trifft immer wieder auf Vorurteile: Immer wieder werden Menschen mit ausländischen Namen gelobt, dass sie so gut deutsch sprechen können oder gefragt, wo sie wirklich herkommen“, sagt Grohnert.
Das erlebt auch die Autorin und Journalistin Khuê Pham regelmäßig, die ebenfalls bei der Diversity-Konferenz in Berlin teilgenommen hat: Gemeinsam mit ihren Kolleginnen Alice Bota und Özlem Topçu hat sie das Buch „Wir neuen Deutschen“ geschrieben, in dem es genau darum geht: Wer nicht deutsch aussehe oder wessen Name fremd klinge, werde anders behandelt als andere – auch wenn er selbst in Deutschland geboren und aufgewachsen sei. Erst dadurch entstehe bei vielen ein Gefühl der Entfremdung. Und abgesehen davon, dass diesen Menschen ständig vermittelt wird, hier irgendwie nur zu Besuch zu sein, auch wenn sie vielleicht schon in dritter Generation in Deutschland leben, entstehen ihnen auch ganz reale Nachteile.
Staatssekretär Billen bringt es auf den Punkt: „Die Statistiken sind hier ja eindeutig: Auch bei gleichen Noten haben Jugendliche mit Migrationshintergrund schlechtere Chancen auf eine Stelle.“ Schneider wird zum Vorstellungsgespräch geladen, Celik bekommt eine Absage, Sandra wird angestellt, Alev nicht.
Ökonomische Gründe für Diversity
Einer dieser Deutschen mit fremdklingendem Namen ist Goran Barić. Er ist der Sohn eines kroatischen Einwanderers und einer serbischen Einwanderin und der Geschäftsführer der Personalberatungs- und Personalvermittlungsgesellschaft PageGroup in Deutschland. „Meine Mutter hat mir damals eingeschärft: Wenn du es in Deutschland schaffen willst, musst du besser sei als die Deutschen“, erzählt er. Nicht nur wegen seines persönlichen Hintergrundes sei Vielfalt in Unternehmen für ihn ein wichtiges Thema. Es gebe schlichtweg ökonomische Gründe, sich für Diversity auch außerhalb der Imagebroschüre einzusetzen: „Belegschaften, die genauso vielfältig sind wie ihre Umwelt, erledigen ihren Job innovativer, kreativer und unterm Strich einfach besser“, so Barić bei einem Diversity-Roundtable seines Unternehmens.
Diversity: So wollen Unternehmen die Vielfalt fördern
Um attraktiv für junge Eltern zu werden, setzen 81,3 Prozent der von der PageGroup befragten Unternehmen auf flexible Arbeitszeitmodelle und Work-Life-Balance-Angebote.
Für die "Diversity Management Survey" hat die Personalberatungs- und Personalvermittlungsgesellschaft online 215 deutsche Unternehmen befragt. Mehrfachnennungen waren möglich.
Mehr als die Hälfte der Befragten setzt auf die Förderung der Bildung von interkulturellen Teams.
Familienfreundliche Angebote - konkret: Angebote für Alleinerziehende - haben rund 47 Prozent der Unternehmen.
Ebenfalls 46,ß Prozent gaben an, Alters- und behindertengerechte Arbeitsplätze anzubieten.
Etwas mehr als 40 Prozent gaben an, ihre Diversity-Aktivitäten im Inter- und Intranet, Broschüren oder bei internen Workshops zu kommunizieren.
Etwas mehr als ein Drittel der Befragten kümmert sich um die Förderung von Akzeptanz und Toleranz von sexueller Orientierung und Identität der Mitarbeiter.
Unabhängig davon, ob es darum geht, mehr Frauen, mehr junge oder alte oder mehr Mitarbeiter mit anderem kulturellen Hintergrund einzustellen – diese Entscheidung müsse von oben kommen und vorgelebt werden. Da sind sich Barić und Grohnert einig. Dabei gilt es auch, Vorurteile im Management und der Belegschaft wahrzunehmen und zu hinterfragen. Wenn der Chef selbst befürchtet, dass Muslime zu viel Arbeitszeit vertrödeln, weil sie zu häufig beten, kann von seinem Team nicht erwarten, neue Kollegen zu integrieren. Davon mal abgesehen, dass sich auch niemand bei den Katholiken fragt, ob sie nicht vor jedem Arbeitsauftrag erstmal den Rosenkranz beten.
Grohnert: „Unternehmenslenker können es sich nicht mehr leisten, an ihren eigenen Stereotypen festzuhalten und Bewerber deshalb zu diskriminieren. Da erzieht sie schlicht der wirtschaftliche Druck um.“ Und die Menschen, die in Deutschland bleiben dürfen, werden nun einmal über kurz oder lang dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen und sich um Jobs bewerben. Spätestens dann müssen sich Personaler und Unternehmer mit der Situation auseinander setzen. Jedoch gilt auch hier wie so oft: Je früher, desto besser.
Wir brauchen einen Masterplan
Noch hält die Bürokratie die schützende Hand über diejenigen, die sich mit den Arbeitskräften aus Syrien lieber nicht beschäftigen wollen. „Initiativen, die sich mit der Bildung, Ausbildung, Integration und Unterstützung der Flüchtlinge beschäftigen, gibt es viele.
Es fehlt derzeit an jemandem, der die Stränge bündelt. Wir brauchen einen Masterplan“, sagt Grohnert. Sobald es den gibt, wird der Arbeitsmarkt zwangsläufig vielfältiger. Davor kann man die Augen verschließen – oder sich darauf vorbereiten. Und zwar nicht, in dem man jetzt schon Mauern aufbaut. Barić: „Grundsätzlich gewinnt man eher, wenn man sich auf die Seite der Chancen schlägt.“