Kapitalismus in der Krise Die verlorene Ehre der Top-Manager

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Der "ehrbare Kaufmann"

Scham und Schande sind keine Funktionen der Moral, sondern der Sitten. Letztere haben sich offensichtlich in den vergangenen Jahrzehnten grundlegend gewandelt. Dieser Wandel, den heutige Historiker in der Regel als Befreiungsgeschichte erzählen, hatte offensichtlich auch verheerende Effekte: Das Zeitalter des „ehrbaren Kaufmanns“ scheint vorbei zu sein, wie Ralf Dahrendorf 2009 in seinem letzten Essay feststellte.

Ein Kaufmann, der seinem Unternehmen durch unmoralische oder erst recht durch gesetzwidrige Geschäftspraxis finanziellen Schaden bescherte, der war im bürgerlichen Zeitalter gesellschaftlich erledigt. Mit dem wollte sich niemand mehr sehen lassen; den lud niemand mehr ein. Für den Betroffenen war der Gesichtsverlust, die verlorene Ehre, die Schande eine persönliche Katastrophe, die den finanziellen Schaden und die gesetzliche Strafe bei weitem übertraf.

Die Literatur des 19. Jahrhunderts ist voll von solchen Schicksalen aus der Frühphase des Kapitalismus, zum Beispiel in Balzacs „Commedie Humaine“: Männer, die nicht mehr als Gentleman galten, weil sie gegen den Ehrenkodex ihrer Kaste verstoßen hatten; denen man im Herren-Club den Händedruck und in der Kirche die Teilnahme an der heiligen Kommunion verwehrte. Man konnte mit einem solchen Ehrverlust dann eigentlich nur noch auswandern - oder schlimmeres: Der Autor dieser Zeilen stammt von einem Brauereibesitzer ab, der sich nach einer erfolglosen Spekulation mit dem Jagdgewehr in den Kopf schoss.

Nicht dass man sich diese Besessenheit von der Ehre, die manch einem wichtiger war als das Leben, zurückwünschen sollte. Aber das offensichtliche Fehlen jeglicher gesellschaftlicher Sanktion, die Top-Manager nach „ehrenrührigem“ Handeln zur Scham bewegen könnte, kann man durchaus als Mangelerscheinung beklagen. Wäre es so unverdient, wenn ein Hans Dieter Pötsch nach derartig unverfroren demonstrierter Maßlosigkeit nicht wenigstens mit der mehr oder weniger offenen Verachtung seiner Standesgenossen weiterleben müsste? 

Aber die Frage ist müßig. Denn die Ehre des Kaufmanns, deren Verletzung Schande mit sich bringt, also die Verachtung der Standesgenossen, gibt es nicht mehr. Deswegen laufen auch freiwillige Regeln der Managerkaste wie der deutsche Corporate Governance Kodex weitgehend ins Leere: Sie versuchen künstlich etwas zu schaffen, was in Jahrhunderten wächst und zerfällt, sobald es debattiert wird. Sitten, die man schriftlich fixieren muss, weil sie eben nicht mehr unhinterfragt von allen akzeptiert werden, und deren Bruch keine gesellschaftlichen Sanktionen heraufbeschwört, sind keine mehr. Ein Ehrenkodex, dessen Bruch keine Schande bedeutet, ist nichtig. Er war, das zeigt sich jetzt, die Spesen nicht wert, die der frühere ThyssenKrupp-Chef Gerhard Cromme und die anderen Mitglieder der Kommission bei seiner Erstellung produzierten.

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Also was tun? Nun, das liegt eigentlich auf der Hand. Was dem Adligen und Gentleman früherer Jahrhunderte sein Ruhm und seine Ehre waren, ist dem Top-Manager der Gegenwart sein Geld: das Medium, das fast alleine Status und Erfolg signalisiert. Und weil man die vergessene Ehre nicht durch Kommissionsbeschlüsse wieder einführen kann, führt kein Weg daran vorbei: Wirtschaftsakteure müssen mit den Methoden zur Verantwortung  für ihre Handlungen gezogen werden, die ihnen wirklich weh tun. Das sind nur der Verlust von Geld und Macht.

Das einzige aussichtsreiche, nämlich schmerzende Mittel – jenseits des Strafrechtes – ist die Stärkung der persönlichen finanziellen Haftung leitender Angestellter. Die exorbitant ansteigenden Bezüge und „Boni“ in den Konzernführungen sind allenfalls dann zu rechtfertigen, wenn sie tatsächlich an Erfolg gebunden sind und im Falle des offensichtlichen Versagens entfallen. Gescheiterte Manager finanziell abzustrafen, wäre nicht nur im Interesse der Aktionäre der betreffenden Unternehmen, sondern im Interesse der gesamten Gesellschaft. Durchsetzen kann das nur der Gesetzgeber als politischer Agent der Gesellschaft.

Es geht längst nicht nur um individuelles moralisches Versagen in Konzernen. Es geht ums Ganze. Das heißt: um die Wirtschaftsordnung. Im Bewusstsein der wirtschaftlichen Eliten ist leider nicht mehr besonders tief verankert, dass die Akzeptanz und Stabilität dieser Ordnung auch die Existenzgrundlage der eigenen Privilegien ist, und dass sie selbst die Verantwortung dafür tragen.

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